«Stell dir vor…»

Fantasie als Schlüssel zur Resilienzssteigerung

Die Fantasie zählt zu den mächtigsten Ressourcen des Menschen. Wird ihre Kraft mit den heilenden Einflüssen der Natur, etwa durch Praktiken wie das «Waldbaden» (Shinrin-yoku), verbunden, können Stress reduziert und das Wohlbefinden gesteigert werden.

Vorlesetext zur «Fantasiereise im Wald»

Sie können den Vorlesetext zur «Fantasiereise im Wald» (siehe «HR Today»-Magazin 5/2024, S.44, oder Box unten) hier herunterladen.

 

In Tagträumen können Menschen Heldinnen sein, vollkommene Liebhaber, Präsidentinnen oder Alchemisten. Sie können souverän Konferenzen leiten, grosse Kriege führen, Armeen befehligen und Schlachten gewinnen. Es ist möglich, andere zu berühren, sie zu verführen, ohne dass es die Resonanz des Gegenübers braucht. Menschen können auf dem Reifen des Saturns tanzen und auf dem Rücken eines Phönix durchs All fliegen. Menschen können alles sein in diesem Leben. Die Voraussetzung ist eine lebendige Fantasie.

Fantasie kann zudem eine charmante Art sein, die Realität auszuhalten. Sie kann eine Liebesbeziehung zwischen realem Dasein und den Gefühlswelten sein, und sie findet auf einer Ebene statt, die frei von Ratio ist. Fantasie kann sich in Kreativität ausdrücken und sich manifestieren.

Doch was ist Fantasie? Warum ist sie so wichtig, und weshalb sollte sie gefördert werden? Und welche Grundlagen können Organisationen schaffen, um der Fantasie auch in der Arbeitswelt genügend Raum zu geben?

Belastungen der realen Welt

Technostress und die sich rasch verändernde VUCA-Welt (Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity) sind Ursachen für individuelle und systemische Erschöpfung. Die Fakten sprechen für sich: Psychische Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen nehmen weltweit zu. Das kann bei Mitarbeitenden zu sinkender Motivation und geringerer Leistungsfähigkeit führen, während Organisationen durch ansteigende Gesundheitskosten, negative Auswirkungen auf das soziale Gefüge und Rückgänge der Produktivität belastet werden. Strategien zur Stressbewältigung und Prävention sind deshalb unerlässlich und heute gefragter und wohl akzeptierter denn je.

Jeder Mensch hat ein «Kino im Kopf», das manchmal ganz ungefragt Bilder liefert und mit dem sich die Zukunft in den buntesten Farben ausmalen lässt. Dieses Kino kann Indikatoren für Ängste, Wünsche wie auch Träume geben und zeigen, was Kraft spendet.

Dem HR als steuernde Instanz kommt bei der Entwicklung von positiven Interventionen für Mitarbeitende eine Schlüs­selrolle zu. Resilienzsteigernde Massnahmen, die sich auf ressourcenbasierte Ansätze stützen, sind das Mittel der Zeit. Ein Ansatz, der im Individuum selbst liegt, ist seine Vor­stellungskraft und damit der Begriff der Imagination respektive Fantasie.

Was ist Fantasie?

Fantasie wird verstanden als Produktionskraft des Bewusstseins und damit als Einbildungskraft und das Vermögen, zu imaginieren. Fantasieren bedeutet, kreative Alternativen im Gegensatz zur Realität zu entwerfen, die unterschiedliche ästhetische oder praktische Bedürfnisse erfüllen oder der Ersatzbefriedigung dienen. Fantasie kann definiert werden als Aktivität des Sehens, des Fühlens und des Spürens, ohne dass etwas buchstäblich materiell präsent ist. Es ist nur in der eigenen Vorstellung vorhanden und lässt sich daher beliebig gestalten.

Die Fantasie hat wichtige Funktionen: Jede bahnbrechende Innovation war zuerst ein Gedanke, eine Idee, bevor sie materialisiert wurde. So ist die Fantasie die Basis für kreative Problemlösungen. Und Kreativität selbst ist die Grundlage für historische, technologische und kulturelle Fortschritte. Sie kann die unternehmerische und geschäftliche Performance verbessern, positive Bildungsergebnisse fördern und die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden steigern. Die Fantasie hat aber, wie die Forschung zeigt, viele weitere Funktionen (siehe Box «Funktionen der Fantasie»). Grund genug, sich näher mit ihr zu beschäftigen.

Fantasie kann zusätzliche Kraft entfalten, wenn die Erfahrung oder das innere Bild im Schreiben, im Erzählen, im Malen oder in Kunst, beispielsweise in einer Skulptur, Ausdruck finden.

 

Funktionen der Fantasie

  • Ein Prozess der vorübergehenden Loslösung vom Hier und Jetzt eines Erfahrungsbereichs (Zittoun und Sato, 2018)
  • Soziale Fähigkeiten und Empathie stärken: sich in andere Menschen hineinversetzen (Kast, 2016)
  • Der Langeweile entgegenwirken (Singer, 1964)
  • Gelegenheiten zum Praktizieren der konstruktiven Planung bieten (Singer, 1964)
  • Mit eigenen psychischen Aspekten auseinandersetzen, die noch fremd sind, und diese integrieren, eigenes Selbstverständnis aufzeigen (Kast, 2016; Fitzpatrick, 2020)
  • Kreative Problemlösung (Singer, 1964; Fitzpatrick, 2020; Wenninger, 2023)
  • Element der Vorausschau und der Antizipation, Fähigkeit zur Vorstellung von Zukunftsszenarien (Finn et al., 2023)
  • Ersatzbefriedigung (Kast, 2016; Wenninger, 2023)
  • Eine Komponente der Resilienz und der Schlüssel zum Überleben (Finn et al., 2023)
  • Eine Quelle der Freude (Singer, 1966)
  • Psychische Gesundheit und Wohlbefinden steigern (Forgeard et al., 2016)
  • Ein Werkzeug für aktives Gestalten (Helin et al., 2022; Finn et al., 2023)
  • Lustvolle Wünsche, die nicht der Realitätsprüfung unterliegen, frei von Zensur (Jung, 1908)
  • Das Vermögen, auf der Basis sinnlicher Eindrücke eigenständige Vorstellungen und daraus erwachsende Kunstwerke hervorzubringen (Simon, 2003)
  • Hilft, Wohlbehagen und narzisstisches Gleichgewicht zu stabilisieren und Bedrohungen oder beschämende Erfahrungen abzuwehren (Wenninger, 2023)

 


Unterschiede in der Fähigkeit zum Imaginieren

Menschen haben unterschiedlich leichten Zugang zu ihrer Fantasie. Faktoren wie Persönlichkeit (beispielsweise Offenheit für neue Erfahrungen), neurologische Fähigkeiten, Herkunft, Kultur, soziale und politische Rahmenbedingungen sowie Lebenszufriedenheit beeinflussen die Fähigkeit zum Fantasieren. Gleichzeitig kann sie durch Restriktionen im Umfeld – etwa durch Schule, Arbeit, Familie oder unterdrückende soziale Bedingungen – gehemmt werden. Aspekte wie kulturelle Vorurteile, Rassismus oder Kolonisation spielen ebenfalls eine Rolle.

Imagination ist Realität

Wenn nun Menschen in Romane und Videogames eintauchen, kann es sein, dass sie die beschriebenen Realitäten dort tatsächlich emotional und körperlich «erleben». Warum? Die imaginative Erfahrung scheint so real zu sein wie jede andere Erfahrung. Es scheinen dieselben neurologischen Schaltprozesse im Körper abzulaufen, egal, ob es sich um eine Fantasie oder um unsere Realität in der dritten Dimension handelt. Der Körper unterscheidet also nicht, ob etwas in der Realität erlebt oder imaginiert wird. Die analytische Psychologie, allen voran Robert Avens, ist der Meinung: «Imagination is reality». Dieses Wissen ist mächtig und erschliesst viele Möglichkeiten für ressourcenbasierte Interventionen für Psychologie, Psychotherapie und Coaching.

 

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Bäume mit Augen, symbolisch für die Erweckung der Fantasie beim japanischen Waldbaden. Diese Praxis hilft dabei, die eigene Kreativität anzukurbeln und unterstützt bei der Lösungsfindung.

Fantasie ist auch ein Erfolgsfaktor für Unternehmen.

 

Fantasieren in der Natur

Der Mensch hat sich im Laufe der Evolution an die natürliche Umwelt anpassen müssen, daher ist es nicht verwunderlich, dass für ihn das Leben in unserer modernen «künstlichen» Gesellschaft herausfordernd ist. Denn: Der Mensch war bedeutend länger in der Natur als vor dem Bildschirm. Die natürliche Umwelt aufzusuchen und in den Alltag zu integrieren, gehört daher zum natürlichen Streben des Menschen. Der Wald mit seinen Sinneseindrücken ist ideal, um die Fantasie für Selbstreflexion und Stärkung zu nutzen. Im Zusammenspiel von Imagination und Natur entstehen Potenziale, die sowohl individuell als auch organisational genutzt werden können, um Resilienz und kreatives Denken zu fördern.

In Japan wird Shinrin-yoku, auch bekannt als «Waldbaden», bewusst zelebriert, mit dem Ziel, Stress abzubauen und das allgemeine Wohlbefinden zu fördern. Diese Praxis wurde 1982 von Tomohide Akiyama eingeführt und umfasst achtsame Spaziergänge im Wald, bei denen die Natur mit allen Sinnen wahrgenommen wird. Ergänzende Aktivitäten wie Atem-Yoga und Meditation unterstützen den Entspannungseffekt. Aktuelle Studien zeigen, dass Shinrin-yoku besonders bei der Reduktion von Ängsten wirksam ist, aber auch Depressionen und Stress mindern kann. Es fördert die Emotionsregulation und stärkt das Gefühl der Verbundenheit mit der Natur, indem es harmonisiert und erdet. Inzwischen beschäftigt sich ein weiterer Forschungszweig mit dieser «Forest medicine» und setzt auf die regenerierenden und heilenden Kräfte des Waldes.

Der Wald schafft einen idealen Rahmen für Fantasiereisen, da er durch die sinnliche Beschaffenheit bereits zu Tagträumen anregt. Naturerfahrungen lösen in Menschen zudem häufig positive Gefühle und auch Demut aus. Man wird erinnert an das bescheidene Menschsein und daran, dass ein jeder seinen Platz im grossen und vernetzten System des Lebens hat. Das kann die täglichen Herausforderungen relativieren und einen klärenden und entspannten Blick darauf verschaffen. Eine Anleitung für eine positive Intervention im Wald ist oben auf der Seite zu finden.

 

Fantasiereise im Wald – eine Anleitung

Die von der Autorin entwickelte positive Intervention «Enchanted Forest: Journey to Your Best Possible Self» verbindet die Magie und die transformative Kraft des Waldes mit dem Fokus auf die Reise zum bestmöglichen Selbst.

  1. Gehe in den Wald, an einen Ort, an dem du allein sein kannst. Setze oder lege dich bequem hin. Schliesse die Augen und atme tief und langsam. Wenn du nicht in der Natur sein kannst, reise gedanklich in den Wald. Du kannst deine Reise mit olfaktorischen Reizen, beispielsweise Raumspray aus Kiefernholz, unterstützen. Oder du kannst dir Waldgeräusche als Hintergrundmusik in deinem Raum anhören(zum Beispiel mit den Apps «Calm» oder «Headspace»).
  2. Entspanne dich.
  3. Suche dir eine spezifische Zeit in deinem Leben, auf die du den Fokus richtest. Zum Beispiel heute in fünf Jahren.
  4. Lese den Text, den du hier findest.
  5. Verbringe ein paar Momente damit, dieses «zukünftige Ich» zu visualisieren. Wie fühlt es sich an, dieser Person zu begegnen? Wie fühlt sich die Person? Was siehst du? Wer wird mit dir sein? Womit umgibst du dich? Wo wirst du sein? Wer wirst du sein? Was kannst du erreicht haben bis dann?
  6. Stelle dir diese Zukunft vor, in der alles so gelaufen ist, wie du es dir gewünscht hast: persönlich, beruflich, zwischenmenschlich.
  7. Reflektiere dieses bestmögliche Selbst in diesen Domänen für eine volle Minute.
  8. Schreibe über dich selbst für fünf Minuten in jeder Domäne.
  9. Setze einen Anker, der dich immer wieder an deinen Waldausflug erinnert. Beispielsweise einen Tannzapfen auf deinem Schreibtisch.

 


Organisationales Fantasieren

Die Vorstellungskraft ist ein zentrales Werkzeug für Veränderungen und Empathie. Denn sie ermöglicht es, sich veränderte Szenarien vorzustellen oder die Bedürfnisse anderer zu antizipieren. Fantasie ist in der Praxis besonders wichtig für die Gestaltung der Customer Experience und die Entwicklung von Personas, da diese sicherstellen, dass Produkte und Dienstleistungen präzise auf die Bedürfnisse und Erwartungen der Zielgruppen abgestimmt sind. Darüber hinaus kann das Fantasieren eine effektive Bewältigungsstrategie für Mitarbeitende sein, die unter hohem Druck arbeiten. Weiterführend kann Tagträumen im Management bei Aufgaben hilfreich sein, die keine ständige kognitive Aufmerksamkeit erfordern. Ein CEO wird durch Tagträume kreative Lösungen finden, während ein Therapeut Gefahr läuft, seine Arbeit zu vernachlässigen.

Um langfristig von den positiven Effekten des Tagträumens profitieren zu können, sollten Organisationen Rahmenbe­dingungen schaffen, die kreatives Denken und «Spielen» ermöglichen. Dafür müssen drei zentrale Voraussetzungen erfüllt sein: psychologische Sicherheit, Raum sowie  Zeit für kreatives Denken.

Psychologische Sicherheit bedeutet, dass Mitarbeitende in Teams und Organisationen ohne Angst vor negativen Konsequenzen interpersonelle Risiken eingehen können. Dies ist entscheidend, damit sie sich beim Fantasieren und kreativen Denken verletzlich zeigen können. Es muss ein unterstützendes Umfeld vorhanden sein, in dem Fantasieren akzeptiert und gefördert wird.

Raum bedeutet, dass Mitarbeitende in geeigneter Infrastruktur oder an einem schönen Ort in einer anregenden oder entspannenden Umgebung reflektieren können. So können die Räume divers sein und sich in einem Gebäude oder aber im Freien befinden.

Wichtig ist auch, dass nebst dem physischen Raum der psychische Raum Anwendung findet. Dies bedeutet, dass Mitarbeitende den Wert des Fantasierens erkennen, bewusst aus ihren Routinen ausbrechen und die Zeit für das Fantasieren aktiv in ihre Zeitpläne integrieren und damit ritualisieren.

Reisen in die kreative Zwischenwelt ermöglichen

Organisationen sollten die Funktionen und den Wert der Vorstellungskraft ihrer Mitarbeitenden erkennen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Zeit, die in dieser Zwischenwelt verbracht wird, sowie das Tagträumen selbst nicht als gedankenloses Abschweifen betrachtet werden. Träumen kann ebenso produktiv sein, wenn es verspielt geschieht und in konkrete Manifestationen übergeht, und es kann einen wichtigen Beitrag zur Prävention psychischer Erkrankungen leisten.

Der Appell an Organisationen lautet daher: Schafft progressive Rahmenbedingungen – Zeiten und Räume – in denen die Mitarbeitenden spielen, fantasieren und träumen dürfen!

 

Die Abschlussarbeit zum CAS Positive Psychologie der Universität Zürich mit dem Titel «‹Stell dir vor…›: Phantasie als Schlüssel zu anderen Welten und zur Steigerung der Resilienz» (56 Seiten) kann bei der CSP AG Competence Solutions Projects als Whitepaper bezogen werden unter: www.csp-ag.ch

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Madeleine Grawehr, CSP AG

Madeleine Grawehr absolvierte Studien der Betriebswirtschaftslehre, der digitalen Transformation und zuletzt eine Weiterbildung der positiven Psychologie an der Universität Zürich. Sie ist in der Rolle «People Operations» bei der CSP Competence Solutions Projects AG tätig, einer Unternehmensberatung für Transformation, Technologie, Organisation und Kultur.
www.csp-ag.ch

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