Debatte: Fertilität

Firmen finanzieren das Einfrieren von Eizellen ihrer Mitarbeiterinnen: Eine gute Sache?

Unternehmen setzen sich vermehrt mit der Fruchtbarkeit ihres Personals auseinander. In den USA unterstützen Firmen die Karriereoptionen der Mitarbeiterinnen, indem Sie das Einfrieren der Eizellen finanzieren. Nun findet diese Praxis auch ihren Weg in die Schweiz.

Das Durchschnittsalter der Frauen bei der Geburt ihres ersten Kindes steigt in der Schweiz weiter: 2022 waren sie durchschnittlich 32 Jahre alt – im Jahr 2000 waren es noch 29 Jahre, wie aus Daten des Bundesamtes für Statistik (BFS) hervorgeht. Der Anteil der Mütter ab 35 Jahren steigt weiter und erreichte 2022 fast 35 Prozent.

Das BFS stellt zudem fest, dass immer mehr Frauen aus medizinischen oder nicht-medizinischen Gründen auf das Einfrieren von Ei- und Eierstockgewebe zurückgreifen. Im Jahr 2021 entschieden sich 2502 Frauen für dieses Verfahren, davon 1574 aus «anderen als medizinischen» Gründen – eine Zahl, die im Vergleich zum Vorjahr um 50 Prozent gestiegen ist.

So funktioniert das Einfrieren von Eizellen

Das Einfrieren von Eizellen zielt darauf ab, einer Frau zu ermöglichen, ihre Eizellen für die zukünftige Verwendung zu konservieren. Der Prozess beginnt mit der Verabreichung von Medikamenten zur Stimulierung der Eizellproduktion. Sobald die Eizellen eine optimale Grösse erreicht haben, werden sie mit einer Follikelpunktion unter Narkose entnommen. Die Eier werden dann durch Vitrifikation eingefroren, bevor sie in flüssigem Stickstoff bei –196 °C gelagert werden, wodurch ihre strukturelle Integrität erhalten bleibt. Wenn sich die Frau für die Nutzung ihrer Eizellen entscheidet, werden sie aufgetaut und im Labor mittels In-vitro-Fertilisation (IVF) befruchtet. Die Erfolgsaussichten hängen von einer Vielzahl von Faktoren ab, darunter das Alter der Frau zum Zeitpunkt des Eingriffs, die Qualität der entnommenen Eizellen und andere gesundheitliche Faktoren.

 

Soziales Einfrieren

«Die Beweggründe für das Einfrieren von sogenannten ‹Social Eggs› sind vielfältig und oft komplex», sagt Nolwenn Bühler, Anthropologin und Forschungsleiterin bei Unisanté, die mehrere Studien zur Reproduktionsmedizin verfasst hat. Einige Frauen entscheiden sich dafür, weil sie noch keinen Partner gefunden haben, mit dem sie eine Familie gründen möchten, sich aber Fruchtbarkeitsoptionen für die Zukunft bewahren möchten. Andere befinden sich beispielsweise in einer fortgeschrittenen Ausbildung oder Karriere und möchten die Mutterschaft hinauszögern, bis sie ihre Karriereziele erreicht haben.

«Mehrere Studien zeigen, dass sich Frauen, die sich dieser Lösung zuwenden, oft in einer kritischen Situation bezüglich Fruchtbarkeit befinden», sagt die Forscherin. Diese Behandlungen sind oft sehr teuer – 10 000 Franken in der Schweiz – und bieten keine Erfolgsgarantien, können aber für eine gewisse Beruhigung sorgen.»

Vor einem Jahrzehnt griffen auch grosse Technologieunternehmen wie Meta, Apple und Google dieses Thema auf, indem sie Fruchtbarkeitsprogramme für ihr Personal auflegten.

Diese Praxis breitet sich nun auch anderswo auf der Welt aus. Vor einigen Monaten kündigte der Pharmakonzern Merck den Start eines umfassenden Leistungsprogramms an, um sein Personal in acht Ländern, in denen das Unternehmen tätig ist, finanziell bei Kinderwunschbehandlungen zu unterstützen. Es handelt sich um das erste Projekt dieser Art in der Schweiz.

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«Diese Behandlungen sind oft sehr teuer – 10 000 Franken in der Schweiz – und bieten keine Erfolgsgarantien. »

– Nolwenn Bühler, Unisanté

 

 

Uneingeschränkte finanzielle Unterstützung

«Mit unserem Programm ‹Fertility Benefit› wollen wir Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die einen unerfüllten Kinderwunsch hegen, finanziell unterstützen», erklärt Florian Schick, Director von Merck Schweiz. «Darüber hinaus wollen wir ihnen allgemeine Informationen zum Thema Kinderwunsch und Familienplanung zur Verfügung stellen, da es bei diesem Thema noch viele Missverständnisse und Tabus gibt.» Die Realität ist, dass der Wunsch, eine Familie zu gründen, immer später entsteht. «Heute bekommt ein Drittel der Menschen ihr erstes Kind nach dem 35. Lebensjahr. Zudem hat in der Schweiz jedes fünfte Paar Schwierigkeiten, Kinder zu bekommen. Unser Programm leistet in diesem Fall finanzielle Unterstützung.»

Derzeit beschäftigt Merck Schweiz 2600 Mitarbeitende in neun Tochtergesellschaften (darunter sechs Produktionsstandorte), die sich auf die Bereiche Healthcare und Life Sciences spezialisiert haben. «Dieses Angebot richtet sich an alle unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ohne Einschränkungen hinsichtlich sexueller Orientierung, Geschlecht oder Behandlungswahl», so der Director weiter. «Es handelt sich um eine vertrauliche finanzielle Unterstützung für Menschen, die unsere Kinderwunschbeihilfe in Anspruch nehmen möchten. Vertraulichkeit ist wichtig, denn es gibt eine grosse Zurückhaltung, über den eigenen Kinderwunsch zu sprechen. Mit diesem Angebot wollen wir es den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ermöglichen, ihre Elternschaft so zu gestalten, wie sie es wünschen.»

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«Wir glauben, dass dieses Angebot in Zukunft in grossen Schweizer Unternehmen zur Norm wird.»

– Florian Schick, Merck Schweiz

 

 

Das Projekt entstand auf Initiative von Merck-Angestellten und dient dazu, auf die Bedürfnisse und Anliegen der Generation Z und der Millennials einzugehen. Dazu sagt Florian Schick: «Wir wollen unseren aktuellen und zukünftigen Mitarbeitenden zuhören und ihr Leben positiv beeinflussen, indem wir wichtige Themen ansprechen und entsprechende interne Richtlinien einführen.»

Vielschichtige Themen

Kann ein solch komplexes gesellschaftliches Problem mit einer technologischen Lösung angegangen werden? «Die ‹Technological Fixes› – also die Idee, dass alle Probleme durch neue und bessere Technologien gelöst werden können – wurden heiss diskutiert, als amerikanische Unternehmen das Thema Fertilität aufgriffen, und sind bis heute ungelöst», sagt Bühler. Hinter der scheinbaren Wahlfreiheit und Offenheit, die diese Programme bieten, stellen wir auch fest, dass sie dazu dienen, zu vermeiden, die Norm einer Karriere in Frage zu stellen, für die wir uns voll und ganz engagieren und zur Verfügung stehen müssen.»

Ein solches Angebot könnte den Druck auf manche Frauen erhöhen, glaubt die Anthropologin. Als Beispiel nennt sie das Aufkommen von Verhütungsmethoden: «Diese haben eine emanzipatorische Dimension gefördert, aber paradoxerweise auch die reproduktiven Normen verhärtet, indem sie die Schuld im Falle einer ungewollten Schwangerschaft auf die Frauen schieben.» Solche Fragen reichen über den Horizont von Unternehmen hinaus, sagt die Forscherin. «Aber es ist im besten Interesse von HR, über das Thema ‹Social Egg Freezing› hinauszublicken, indem eine Kultur gefördert wird, die inklusiv und flexibel ist und personalisierte Vereinbarungen ermöglicht, wobei die Mitarbeitenden selbst so viel wie möglich konsultiert werden.»

«Das Feedback, das Merck seit der Ankündigung des Programms ‹Fertility Benefit› erhalten habe, sei überwiegend positiv gewesen», sagt Florian Schick. «Wir sind das erste Unternehmen in der Schweiz, das ein solches Programm anbietet. Wir glauben, dass dieses Angebot in Zukunft in grossen Schweizer Unternehmen zur Norm werden wird.»

 

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Fertilität: Dürfen sich Firmen einmischen?

 

Ingrid Audrey AlsinetPRO

«Die Option der Eizellkonservierung für Mitarbeiterinnen ist keine Verpflichtung für sie, sondern eine Möglichkeit.»

– Ingrid Alsinet hat als HR-Managerin sowohl in der Schweiz als auch im Ausland in internationalen IT-, Finanz- und Pharmaunternehmen gearbeitet.

 

«Man kann sich die Missstände bereits vorstellen. Jede Veränderung wirft Fragen auf, und es ist unsere Pflicht als HR-Spezialisten, die Debatte zu eröffnen, aber wir dürfen uns nicht von der Angst leiten lassen.

Die Option der Eizellkonservierung für Mitarbeiterinnen ist keine Verpflichtung für sie, sondern eine Möglichkeit, die diskriminierungsfrei ist, solange die Nutzerin bei einem der Unternehmen angestellt ist, die über dieses Angebot verfügen. Es ermöglicht zudem einigen Mitarbeiterinnen, von einer Leistung zu profitieren, die ihnen unter anderen Umständen nicht zugänglich gewesen wäre. Zudem hindert es die besagten Mitarbeiterinnen keineswegs daran, Kinder zu bekommen, wenn sie nicht darauf zurückgreifen wollen. Letztlich scheint die Eizellkonservierung mehr mit persönlichen Lebensentscheidungen als mit beruflichen Einflüssen korreliert zu sein, denn die Eizellkonservierung garantiert die Elternschaft keineswegs.

In einigen Berufen sind wir als HR-Fachkräfte verpflichtet, von einem Kinderwunsch zu erfahren, um unsere Schutzpflicht erfüllen zu können. In anderen Branchen ist es nicht unüblich, in das Zentrum gewisser Vertraulichkeiten gezogen zu werden, und wir sind zur Verschwiegenheit verpflichtet.

Wichtig ist, das Ganze in einen Rahmen zu setzen. Es gilt zu gewährleisten, dass die Mitarbeiterinnen dieselben Informationen und Rechte geniessen, als ob die Eizellkonservierung rein privat durchgeführt worden wäre, mit allen Garantien der medizinischen Geheimhaltung. Dieser Ansatz muss vollständig von der eigentlichen Tätigkeit des Unternehmens getrennt sein. Aber was ist mit den anderen Mitarbeitenden, denen die Eizellkonservierung nicht angeboten werden kann?

Keinesfalls dürfen wir uns täuschen lassen! Innerhalb der Unternehmen sollte diese Möglichkeit nicht die bestehenden Massnahmen sowie andere Initiativen des Arbeitgebers mit dem Ziel einer Work-Life-Balance ersetzen. Und vergessen wir nicht, dass einige Unternehmen bereits im Zeitalter des Work-Life-Blending sind, mit allen Vor- und Nachteilen dieses neuen Modells.

‹Wissenschaft ohne Gewissen bedeutet den Untergang der Seele›, sagte Rabelais. Ist diese Debatte letztendlich nicht vor allem eine gesellschaftliche?›»

 


Stéphane HaefligerKONTRA

«Überlassen Sie dem Arbeitgeber nicht zu viel Macht? Stört es Sie nicht, ihn so auch in Ihr Schlafzimmer zu lassen? »

– Stéphane Haefliger ist seit 2019 Mitglied der Geschäftsleitung von Vicario Consulting SA.

 

«Es gibt drei Argumente, die aus meiner Sicht stark gegen eine solche Initiative sprechen:

  • Das ethische Prinzip: Wenn Ihr Arbeitgeber versucht, sich in Ihr Privatleben einzumischen, wehren Sie sich mit Nachdruck! Sie vertrauen ihm – als Führungskraft – Ihre besten Jahre, Ihr Gehalt, Ihre Sozialversicherungen, Ihre Pensionskasse, Ihre Ausbildungen an. Er garantiert Ihren Hypothekarkredit mit Ihrem Gehalt. Halten Sie es jetzt für klug, ihn in die Gestaltung Ihres Kinderwunschprojekts einzubeziehen? Überlassen Sie dem Arbeitgeber nicht zu viel Macht? Stört es Sie nicht, ihn so auch in Ihr Schlafzimmer einzuladen?-
     
  • Das Gedächtnisprinzip: Unternehmen sind auch Kontrollstellen. Sie haben immer versucht, die Körper der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu kontrollieren. Von Taylor (die Kontrolle der Bewegungen) über die UBS (und ihrem 44-seitigen Dresscode, der sogar die Farbe der Unterwäsche festlegt) bis hin zum Tracking Ihres beruflichen Teslas … Das Unternehmen sagt Ihnen, wann Sie arbeiten, mit wem Sie sich austauschen, wem Sie berichten, wie Sie sich verhalten, welche Ergebnisse Sie erzielen, wann Sie Urlaub nehmen und auf welche Weise Sie kommunizieren sollen … Ist das nicht genug? Oder möchten Sie ihm sogar erlauben, festzulegen, wann Ihre Eizellen aufgetaut werden dürfen?
     
  • Das Realitätsprinzip: Wie rechtfertigt der Arbeitgeber sein Angebot? Mit Marketing-Geschwurbel: ‹um den Bedürfnissen der Generation Z gerecht zu werden.› Es ist sehr wohl bekannt, dass die Generation Z nicht existiert und dass diese Kohorte von Individuen nicht homogen ist, insbesondere in Bezug auf ihre soziale Klassenzugehörigkeit. Was die Förderung der Karriere von Frauen betrifft, so schlage ich Merck Schweiz vor, mehr Frauen in höhere Führungspositionen zu berufen.»
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Erik Freudenreich
Online-Redaktor, HR Today. erik.freudenreich@almamedien.ch
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