«Führen heisst, die Menschen aufzurichten»
Pater Anselm Grün von der Abtei Münsterschwarzach beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Leadership. Ein Gespräch über Werte im Unternehmensalltag, Führung auf Distanz, selbstorganisierte Teams und Holacracy.
«Um andere gut zu führen, muss ich mich zuerst selbst führen», sagt Pater Anselm Grün. (Foto: zVg)
Sie sind Mönch, Autor spiritueller Bücher und Führungscoach. Ihr Bestseller «Spirituell Führen» ist soeben in einer Neuauflage mit zusätzlichen Kapiteln zur «Digitalisierung» und zu «Führen aus der Distanz» erschienen. Beeinflusst die Digitalisierung die Art und Weise, wie wir führen?
Pater Anselm Grün: Die Digitalisierung führt dazu, dass Führungskräfte Mitarbeitenden weniger begegnen. Somit braucht es in der Zusammenarbeit noch mehr Vertrauen. Da die Kommunikation aus der Entfernung schwieriger ist, müssen Vorgesetzte neue Wege finden, um ihre Mitarbeitendenzu motivieren.
Nicht jedem liegt Führung auf Distanz, wie die Corona-Pandemie zutage bringt. Wie ist dies dennoch möglich?
Wichtig sind persönliche Gespräche per Video oder Telefon, in denen ein Miteinander entsteht und in denen es nicht nur um konkrete Probleme geht. Es sollte kein simples Gerede sein, sondern ein Gespräch, in dem sich Mitarbeitende und Vorgesetzte persönlich zeigen.
Was meinen Sie damit?
Beim Reden geht es darum, zu begründen, zu berechnen und darzulegen. Ein Gespräch entsteht dagegen nur, wenn wir sprechen. Das Wort sprechen kommt von bersten: Es bricht aus mir heraus. Sprechen meint immer ein Sprechen mit dem Herzen, in dem der andere mich spüren kann und nicht nur meine Argumente hört. Beim Reden bleiben wir indes auf der sachlichen Ebene. Doch das allein bewegt uns nicht. Nur wenn wir im Gespräch mit dem anderen in Berührung kommen, also das Herz mitspricht, können wir inspirieren.
Was ist bei der Führung auf Distanz sonst noch essenziell?
Dass wir Mitarbeitenden zutrauen, auch ohne äussere Kontrolle gut zu arbeiten. Wir sollten dazu auf professioneller wie auch persönlicher Ebene immer in Kommunikation bleiben.
Auch neue Führungsstile sind gefragt...
Das stimmt: Der neue Führungsstil darf jedoch nicht mehr nur von Zahlen ausgehen, sondern muss von den Menschen kommen, die wir leiten. Führen heisst, Leben in den Mitarbeitenden zu wecken.
Wie gelingt das?
Zunächst, indem sich eine Führungskraft in seinen Mitarbeitenden hinein meditiert. Wenn ich ihn mir vorstelle: Wofür brennt er? Was macht er gerne? Wo könnte er seine Fähigkeiten entfalten? Weiss ich das, kann ich mit ihm gemeinsam herausfinden, wie er sein Potenzial am besten entfalten kann.
Sie leben in einem Kloster. Wie erleben Sie Führung im Klosteralltag?
Nach aussen hat das Kloster natürlich klare Strukturen und der Abt ist Leiter des Klosters. Dennoch leben wir hier sehr autonom und sind sicher demokratischer unterwegs als viele Firmen. Probleme lösen wir beispielsweise gemeinschaftlich und nicht autoritär. So kann jeder Einzelne Rückmeldung geben. Im Gespräch entwickeln wir daraus dann gemeinsam neue Ideen.
Wo sehen Sie in der Führung Potenzial?
Zunächst muss die Führungskraft an sich selbst arbeiten, damit sie das ausstrahlt, was sie erreichen möchte. Ich kenne viele, die Vertrauen vermitteln wollen. Von ihnen geht aber ein starkes Misstrauen aus, weil sie sich selbst nicht vertrauen.
Wie lernt man, sich selbst zu vertrauen?
Ich kann mir selbst nur vertrauen, wenn ich mich nicht bewerte und so belassen kann, was in mir hochkommt. Bei uns Mönchen heisst das: Wir sind nicht für die Gedanken und Gefühle in uns verantwortlich, sondern dafür, wie wir damit umgehen. Viele Menschen haben jedoch Angst vor Negativem. Sie verdrängen das oder projizieren es auf andere.
Führung braucht Werte. Welche vertreten Sie?
Ich setze auf die Werte der griechischen Philosophie: Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mass und Klugheit, aber vor allem auch auf die christlichen Werte Glaube, Hoffnung und Liebe. Glaube heisst, dass ich nicht nur an Gott glaube, sondern auch an den Menschen. Das bedeutet, an den guten Kern in jedem. Wertvoll ist ein Unternehmen nur dann, wenn es Hoffnung vermittelt. Auch eine Führungskraft führt nur dann gut, wenn von ihr Hoffnung ausgeht. Liebe steht für Verbundenheit. Wenn sich Mitarbeitende verbunden fühlen, sind sie kreativ.
Was halten Sie von selbstorganisierten Teams und Holacracy?
Nicht viel. Dadurch bilden sich unbewusste Strukturen. Diese sind nicht immer ein Segen für das Team. Man kann kollegial führen, aber es braucht auch eine Person, die Ideen aus den Mitarbeitenden hervorlockt und diese koordiniert.
Menschen suchen durch ihre Arbeit einen Sinn. Wie können Führungskräfte dazu Hand bieten?
Einen Sinn in der Arbeit zu finden, ist zentral für die Motivation. Die Führungskraft kann den Sinn nicht vorgeben, diesen im Gespräch mit den Mitarbeitenden aber für jede Tätigkeit finden. Als Führungskraft muss ich jedem Einzelnen vermitteln, dass er für die Firma wichtig und sein Tun sinnvoll ist.
Haben Sie ein Unternehmensbeispiel für gute Führung?
Unternehmer Bodo Janssen hat den Führungsstil in seiner Hotelkette «Upstalsboom» völlig verändert. Er ist für mich ein gutes Beispiel für moderne Führung. Janssen ist einer, der zuerst seine Mitarbeitenden entwickeln möchte und nicht das Unternehmen.
Was ist Ihre wichtigste Botschaft?
Erstens: Um andere gut zu führen, muss ich mich zuerst selbst führen, mich selbst kennenlernen, in mir Frieden finden und so eine gute Ausstrahlung haben. Zweitens: Führen heisst, Leben zu wecken in den Mitarbeitenden und Führen heisst auch, Menschen aufzurichten, sodass sie abends aufrecht nach Hause gehen.
Buchtipp: Spirituell führen – Eine aktuelle Antwort
Anselm Grün und Friedrich Assländer
Spirituell führen – Eine aktuelle Antwort
Vier-Türme-Verlag, 2021, 256 Seiten