Geben und Nehmen müssen auch im Arbeitsleben in Balance sein
Reziprozität, also Wechselseitigkeit, ist eine tragende Grundlage menschlicher Beziehungen. Ist dieses Prinzip erfüllt, kann Vertrauen entstehen. Zwei Beispiele aus dem Arbeitsalltag.
Wenn Geben und Nehmen im Gleichgewicht sind, ist die Zusammenarbeit optimal. (Bild: iStock)
Reziprozität ist ein universell verankertes Prinzip mit langer Geschichte (Konfuzius, Neues Testament, Kant). Das, was man erhält, wird zurückgegeben. Eine Leistung ruft nach einer adäquaten Gegenleistung. Geschenke und Einladungen sind bekannte Beispiele. Im Privaten wie in den Arbeitsbeziehungen wird die Balance von Geben und Nehmen gesucht. Reziprozität stärkt die Beziehungen und gibt dem sozialen Leben Ordnung und Vorhersehbarkeit.
Die meisten Personen verhalten sich bedingt kooperativ, das bedeutet, sie kooperieren, solange auch die andern mitmachen. Reziprozität funktioniert zuverlässig im überschaubaren Kreis und dort, wo eine langfristige Beziehung besteht. Je enger das Verhältnis und je wahrscheinlicher, dass man sich wieder trifft, desto eher kann von Reziprozität ausgegangen werden. Je anonymer die Umgebung und je geringer die Chance, ein-ander wieder zu begegnen, desto grösser der Eigennutz.
Wie Untersuchungen zeigen, verhält sich die Mehrheit der Menschen nach den Regeln der Reziprozität. Die Minderheit der Altruisten geht über die Reziprozität hinaus. Umgekehrt sucht der Homo oeconomicus – also der rational denkende Mensch –, primär seinen eigenen Nutzen zu maximieren. Aber auch er ist auf andere angewiesen und hat langfristig gesehen ein Interesse, zu kooperieren.
Während Reziprozität in der Soziologie und Ethnologie schon lange intensiv diskutiert wird, wurde sie bisher wenig mit Unternehmen in Verbindung gebracht. Zwei Beispiele sollen die Bedeutung der Reziprozität in Unternehmen und im HRM aufzeigen. Sie machen deutlich, dass letztlich auch der Unternehmenserfolg von der Einhaltung von Reziprozität und Fairness beeinflusst wird.
Beispiel 1: Der psychologische Arbeitsvertrag
Der Arbeitsvertrag im engeren Sinne umfasst eine vermögensrechtliche Austauschbeziehung, nämlich die Leistung von Arbeit gegen Lohn. Zusätzlich entsteht eine Reihe von gesetzlichen Nebenpflichten auf beiden Seiten. Die Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer geht aber weit über diese rechtliche Beziehung hinaus. Sie beinhaltet auch einen psychologischen Vertrag, der die wechselseitigen Erwartungen und Annahmen im Sinne der Reziprozität zum Inhalt hat. Konkret erwartet der Arbeitnehmer Sicherheit, Entwicklungsmöglichkeiten und Work-Life-Balance, der Arbeitgeber Leistungsbereitschaft und zunehmend auch Eigeninitiative und Flexibilität.
In den letzten Jahren aber ist es zu Veränderungen gekommen: Aufgrund einer rein ökonomischen Sicht, ständiger Umstrukturierungen, von Kostensparprogrammen, Fusionen und Entlassungen ist der psychologische Arbeitsvertrag aus der Sicht vieler Arbeitnehmer nicht mehr im Gleichgewicht. Wenn die erwartete Sicherheit wegfällt, bricht für sie eine wesentliche Grundlage des psychologischen Arbeitsvertrages weg.
Die Auswirkungen dieser Auflösung des psychologischen Arbeitsvertrages werden unterschätzt. Wenn das Unternehmen seinen Teil des Vertrages nicht mehr erfüllt, fühlt sich auch der Arbeitnehmer nicht mehr daran gebunden. Die Mitarbeitenden reagieren, indem sie ihr Commitment reduzieren. Sie optimieren ihrerseits ihre Interessen und identifizieren sich weniger mit dem Unternehmen. Innere Kündigung und Fluktuation nehmen zu, und damit sind auch Leistung und Produktivität tangiert.
Die gegenseitigen zukunftsbezogenen «geheimen» Erwartungen, Interessen und Ziele sind im psychologischen Arbeitsvertrag in ein neues Gleichgewicht zu bringen. Es ist eine grundsätzliche personalpolitische Frage, wie der psychologische Arbeitsvertrag in einem Unternehmen gestaltet werden soll. Zukünftige Mitarbeitende werden sich auf alle Fälle wesentlich mehr dafür interessieren, ob ein Unternehmen ein reines Business-modell, in dem je nach Situation eingestellt oder entlassen wird, verfolgt oder ob es faire zwischenmenschliche Beziehungen in allen Situationen zusichert. Dazu könnte gehören, die Bedeutung der kulturtragenden Stamm-belegschaft wieder stärker zu gewichten, das heisst zum Beispiel, dass langjährige Mitarbeitende davon ausgehen dürfen, dass sie bis zu ihrer Pensionierung Beschäftigung im Unternehmen finden, vorausgesetzt, sie sind flexibel genug, auch neue Aufgaben zu übernehmen.
Ein neuer psychologischer Arbeitsvertrag wird tragfähig sein, wenn er wieder von beiden Seiten als fair empfunden wird und die Balance zwischen Geben und Nehmen stimmt. Das setzt voraus, dass Unternehmen ihre soziale Verantwortung wieder klarer wahrnehmen.
Beispiel 2: Das Vertrauen zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitenden
Wie Vertrauensbildung zustande kommt, zeigt das Computerspiel «Tit for Tat» schön auf. Zwei Partner haben die Wahl zwischen ehrlichem und betrügerischem Handeln. Leis-ten beide einen ehrlichen Beitrag, gewinnen sie drei Punkte. Wenn beide betrügen, gewinnen sie nichts. Betrügt nur einer, bekommt er fünf Punkte, und der andere geht leer aus. Im Ergebnis wird jeweils das Verhalten des Partners in der vorangehenden Runde imitiert. Wenn Kooperation und Vertrauen angeboten werden, wird das Vertrauen in der Regel mit Vertrauen beantwortet. Beide Seiten erkennen, dass sie so aus dem Spiel den höheren Nutzen ziehen, als wenn sie Gewinn auf Kosten des andern anstreben.
Auch im Verhältnis von Vorgesetzten und Mitarbeitenden wird in der Regel Vertrauen mit Vertrauen beantwortet. Je mehr Vertrauen gegeben wird, desto mehr fühlt sich der Empfänger verpflichtet, ihm gerecht zu werden. Vertrauen entsteht durch die Erfahrung von verlässlichem Geben und Nehmen. Das Vertrauen zu Vorgesetzten oder zu Unternehmen gründet in konkreten vertrauensfördernden Handlungen und in gemeinsam gelebten Werten. Vertrauen gibt Sicherheit und entscheidet letztlich darüber, ob der Mitarbeitende bereit ist, sich auf unbekanntes Gelände zu begeben und sich zu engagieren.
- Vertrauen ist die Grundlage von Identifikation, Leistung und Innovation. Nur wenn Menschen einander vertrauen, arbeiten sie schnell, kostengünstig und kreativ zusammen. Der Wert des Vertrauens lässt sich erst ermessen, wenn es verloren gegangen ist. Vertrauen wird langsam vermehrt, aber schnell zerstört. Ein einziger Vertrauensbruch kann Vertrauen in Misstrauen umschlagen lassen. Vertrauen wie Misstrauen sind ansteckend. Besondere Leistungen sind nur in einer Atmosphäre des Vertrauens möglich. Ohne gegenseitiges Vertrauen gibt es kein funktionierendes Miteinander.
- Misstrauen kostet zu viel. Im Zweifel lohnt es sich, zu vertrauen. Die Misstrauenskosten dürften sogar höher sein, als wenn im Einzelfall Vertrauen nicht honoriert wird. Misstrauen macht nämlich Mitarbeitende listig. Misstrauen gebiert Misstrauen und enthält damit ein grosses Risikopotenzial. Mitarbeitende, die übermässig kontrolliert werden, legen das als Ausdruck von Misstrauen aus, schränken ihren Einsatz ein und beginnen schlimmstenfalls sogar, sich zu rächen, indem sie ihren Arbeitgeber schädigen (Diebstähle, Dienst nach Vorschrift usw.).
- Vertrauen ist eine Vorleistung. Die Mitarbeitenden vertrauen dem Vorgesetzten nur, wenn sie sich respektiert und fair behandelt fühlen. Der Mensch blüht nur unter Vertrauensbedingungen auf. Zu spüren, dass der Vorgesetzte an einen glaubt («Ich glaube, Sie schaffen es»), ist der grösste Vertrauensbeweis. Die meisten Menschen reagieren auf einen Vertrauensvorschuss mit Anstrengungsbereitschaft und Leistungswillen. Ein positives Menschenbild ist oft eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Vertrauen schenken ist eine Entscheidung und eine innere Einstellung. In den Mitarbeitenden sind viele Kräfte der Selbstentwicklung angelegt. Sie können viel, wenn man sie nur lässt.
In einer Gemeinschaft auf Gegenseitigkeit haben Unternehmen und Vorgesetzte alles Interesse, sich im Sinne der Reziprozität fair zu verhalten.