HR Today Nr. 7&8/2017: Im Gespräch

Im Haifischbecken

«Fressen oder gefressen werden» heisst das Buch des ehemaligen Lidl-Managers Michael Fischer. Darin beschreibt der heute 50-Jährige auch die fragwürdige Führungskultur des Discounters zum Zeitpunkt des Markteintritts in die Schweiz. Ein Weckruf.

Herr Fischer, Sie haben im Buch «Fressen oder gefressen werden» unter dem Pseudonym «Casimir Brown» Ihre Erlebnisse bei den deutschen Discountern Penny und Norma sowie Lidl Schweiz geschildert. Was hat Sie in einer Unternehmenskultur gehalten, in der Mitarbeitende schriftlich als «dumm wie Knäckebrot» betitelt und dauerüberwacht wurden, wo Führungskräfte zusammenbrachen, man sich anschrie, Alkohol- und Drogenexzesse sowie Diebstähle an der Tagesordnung waren?

Michael Fischer: Ich war 13 Jahre lang ein Teil dieses Systems. Es wäre wirklich heuchlerisch und falsch, mich als Opfer der Discounter zu präsentieren. Ich lebte einfach jedes Jahr, als sei es mein letztes, stellte die damaligen Zustände aber auch nicht in Frage und liess mich von diesem Strudel einfach mitreissen.

Was ist für Sie die Ursache dieses ständigen Drucks und des Fehlverhaltens der Führungskräfte?

Es ist ein simples System. Jedem neuen Mitarbeiter wird vom ersten Tag an klar und deutlich gemacht, was die Konsequenzen etwaigen Fehlverhaltens oder schlechter Ergebnisse sind, nämlich die umgehende Entlassung. Der immense Druck, jederzeit seinen Arbeitsplatz verlieren zu können, wird von oben nach unten durchgereicht. So entsteht innert kürzester Zeit ein Kampf um das eigene Überleben, was nicht die besten Eigenschaften der Menschen zum Vorschein bringt. Kollegen sind nicht mehr Kollegen, sondern Konkurrenten und jeder wird zum potenziellen Feind. Wird wieder jemand entlassen, freut man sich, dass es ihn erwischt hat und man selbst zumindest für einen kurzen Zeitraum überlebt hat. Der Schweizer Landesleiter kommentierte das so: «In der Organisation muss unter den Mitarbeitenden eine permanente Spannung herrschen, denn nur dann ist sie produktiv.» Wo er nur konnte, spielte er Mitarbeitende gegeneinander aus: «Ihr Kollege hat gesagt, Sie seien unfähig» oder «Ihr Kollege macht das aber viel besser». Das führte zu teilweise absurden Situationen. Man führte wilde E-Mail-Schlachten: «Du bist das Letzte, ich mach dich fertig!» Man schrie sich aber auch während der Prokuristen-Sitzung lautstark an. Wir hatten alle eine dünne Haut, weil wir alle zwischen 80 und 100 Stunden pro Woche arbeiteten und am Wochenende und nachts angerufen wurden. Wir waren alle müde, erschöpft und aggressiv. Lidl Schweiz hat mich an meine persönlichen Grenzen gebracht.

Welche Mitschuld für diese Zustände trägt aus Ihrer Sicht das HR?

Die HR-Abteilung war wie alle anderen auch in einem System der Angst und der Unterwerfung gefangen. Auch bei Lidl Schweiz schauten die HR-Fachleute nur dafür, dass sie ihren Arbeitsplatz und ihre Position behalten konnten. Dementsprechend hielten sie sich mit etwaiger Kritik an der Unternehmensführung sehr zurück. Im Gespräch mit mir äusserten sie sich zwar vertrauensvoll über herrschende Missstände, gaben sich gegenüber der Geschäftsleitung aber wie zahme Hauskätzchen.

Haben Sie Hoffnung, dass sich die Discounter-Mentalität zum Besseren wendet?

Überhaupt keine, denn das bestehende System ist zu tief verankert. Aus Angst vor der Entlassung äussern sich die Mitarbeitenden nicht. Die einzige Chance, einen Wandel herbeizuführen, ist die öffentliche Kritik. Erst dann werden die Geschäftsleitungen etwas verändern. Nicht etwa aus Überzeugung, sondern aus panischer Angst vor einem Imageverlust.

Was sind Ihre wichtigsten Führungserkenntnisse?

Wenn eine Führungskraft respekt-, vertrauens- und verständnisvoll mit den Mitarbeitenden umgeht, wird er mit hervorragenden betriebswirtschaftlichen Ergebnissen belohnt. Eine weitere Erkenntnis ist die, dass Missstände in der Personalführung bei den Discountern für den Einzelnen körperlich und psychisch gesundheitsschädigend sind. Entweder fügt man sich in das herrschende System ein, man kündigt oder es wird einem gekündigt. Die meisten Vorgesetzten wollen zudem keine ehrlichen Mitarbeitenden, sondern Jasager, weil diese einfacher zu führen sind. Es sind keine mitdenkenden und individuellen Mitarbeiter erwünscht.

Was ist die Kernbotschaft von «Fressen oder gefressen werden»?

Wir sollten uns alle bewusst werden, was wir Tag für Tag machen. Wir alle spielen irgendwelche Rollen, um zu gefallen, und sind nicht ehrlich mit uns selbst und unseren Mitmenschen, bloss, um Karriere zu machen. Wir verlieren unser eigentliches Ich immer mehr. Ich glaube, der wesentliche Sinn unseres Lebens ist, zu uns selbst zu finden. Nur weil wir uns alle so verhalten, heisst das nicht, dass dies in Ordnung ist. Unser Leben ist dafür zu kurz. Eigentlich muss es uns wirklich egal sein, was andere von uns denken. Wichtig ist mir auch, die Personalführung in den Discountern zu verändern. Menschen  sollen nicht länger als Ware betrachtet werden, die man verbraucht und wegwirft. So habe ich in 13 Jahren keinen einzigen Mitarbeitenden kennengelernt, der bei diesen Discountern regulär in die Rente gegangen wäre. Mit knapp 40 Jahren galt ich in dieser Branche bereits als «Opa». Jede Führungskraft, die im Discount arbeitet, muss wissen, dass sie in dieser Szene über kurz oder lang entlassen wird, ungeachtet der persönlichen Arbeitsleistung. Mein erstes Vorstellungsgespräch bei Lidl Schweiz hatte ich beispielsweise mit drei internationalen Geschäftsleitern. Sechs Monate später sind zwei entlassen worden und einer wurde degradiert. Von meinen damaligen Vorgesetzten sind mittlerweile alle entlassen. Es ist wirklich keiner mehr da. Das kann doch nicht sein …

Zur Person

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Michael Fischer (50) war 13 Jahre lang in führenden Managementpositionen bei Discountern wie Penny, Norma, Lidl International und Lidl Schweiz tätig, bevor er 2011 der Branche den Rücken kehrte. In der Schweiz war er als Discountmanager am Aufbau von Lidl Schweiz beteiligt. Im Buch «Fressen oder gefressen werden» beschreibt er unter dem Pseudonym Casimir Brown die ruppige Unternehmenskultur der Discounter. Michael Fischer ist verheiratet, hat drei Kinder und wohnt in St. Gallen.

Casimir Brown: Fressen oder gefressen werden; Im Vollrausch durch 13 Jahre Discount AAVAA Verlag UG, 2017, 487 Seiten

Weshalb haben Sie Ihre ehemaligen Arbeitgeber, Penny, Norma und Lidl Schweiz, im Buch nicht namentlich genannt?

Es liegt mir fern, den Discountern einen Schaden zuzufügen, deren Unternehmenskulturen sich übrigens mehr oder weniger gleichen. Dagegen möchte ich eine Veränderung in der Personalführung bewirken. Aus meiner Sicht würde es für die Unternehmen sprechen, wenn sie aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und Massnahmen einleiten würden, um diese zu beheben. Ich bin fest davon überzeugt, dass ein solches Verhalten öffentlich als sehr positiv wahrgenommen und sich das Image der Branche verbessern würde. Meist wird jedoch alles abgestritten und nichts geändert. Wenn etwas vorgefallen ist, wartet man, bis Gras darüber gewachsen ist und die Sachverhalte vergessen wurden. Dann macht die Unternehmensleitung weiter wie bis anhin.

Darin sind Ihre Arbeitgeber nicht namentlich genannt, dennoch haben Sie sich in einem Interview der Bilanz im März 2017 geoutet. Weshalb?

Vor dem Buch «Fressen oder gefressen werden» hatte ich ja bereits das Buch «Sinn des Lebens» unter diesem Pseudonym veröffentlicht. Da ich in diesem Buch meine schwere Suchterkrankung thematisierte, entschloss ich mich, dieses unter dem Pseudonym «Casimir Brown» zu veröffentlichen. Natürlich war ich auch das Produkt meines Umfelds. Freunde rieten mir, «Fressen oder gefressen werden» bloss nicht unter meinem richtigen Namen zu veröffentlichen. Nachdem ich dafür einen Verlag gefunden hatte, hielt ich aus Angst vor negativen Konsequenzen weiterhin an meinem Pseudonym fest. In dem Buch kritisiere ich jedoch die tägliche Theateraufführungen der Führungskräfte und deren Unehrlichkeit. Deshalb kam ich zum Schluss, dass ich nicht etwas anprangern und kritisieren kann, das ich in meinem Leben gleich handhabe. Das ist wenig glaubwürdig. Deshalb habe ich erstmals in einem «Spiegel»-Interview meinen Namen öffentlich genannt und mich zu meiner Alkoholsucht ge­äussert. Dabei habe ich Erstaunliches festgestellt: Wenn man ehrlich ist und zu sich steht, geht das Leben weiter. Ich habe bisher keine negativen Reaktionen erfahren. Wohl auch deshalb, weil ich die Wahrheit beschreibe und die Unternehmen sonst gezwungen wären, an die Öffentlichkeit zu treten. Dieses Risiko werden sie jedoch nicht eingehen. Weshalb ich weiterhin Bücher unter meinem Pseudonym schreibe, hat inzwischen mehr mit dem Bekanntheitsgrad dieses Namens zu tun.

Wollen Sie sich mit dem Buch «Fressen oder gefressen werden» eigentlich profilieren?

Ich bin nicht frustriert und möchte mich auch nicht damit rächen. Ich habe immer von mir aus gekündigt und das zum Bedauern meiner Vorgesetzten, die mich halten wollten. Es ist aufgrund meiner Lebensgeschichte ein Wunder, dass ich noch lebe und ich meine Sinne beisammen habe. Ich habe Glück gehabt und möchte meine Erlebnisse und Erfahrungen nutzen, um anderen Menschen zu helfen und etwas Positives zu bewirken.

Lidl nimmt Stellung

HR Today hat Lidl Schweiz die Gelegenheit für eine Stellungnahme gegeben, die wir im Folgenden abdrucken:

«Lidl Schweiz möchte festhalten, dass die im Buch von Herrn Fischer dargestellten Sachverhalte auf Lidl in der Schweiz nicht zutreffen. Grundsätzlich praktiziert Lidl Schweiz einen respektvollen und wertschätzenden Umgang mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

In den letzten Jahren hat Lidl Schweiz sys­tematisch und konsequent an der ständigen Entwicklung der Arbeits- und Führungskultur im Unternehmen gearbeitet und dies auch in den Unternehmensgrundsätzen sowie den Führungsleitlinien festgelegt. So erfassen bei Lidl Schweiz bereits seit 2014 auch Kadermitarbeiter ihre Arbeitszeit, was in der Branche bisher nicht üblich war. Anfangs 2017 wurde die Höchstarbeitszeit für Kadermitarbeiter auf Eigeninitiative von Lidl Schweiz unter das gesetzliche Niveau gesenkt. Verstösse gegen diese Regelungen können Mitarbeiter melden – auch anonym. Lidl Schweiz geht solchen Hinweisen gewissenhaft nach und ergreift im Bedarfsfall Massnahmen.

Im Bereich der Arbeitssicherheit finden regelmässig Inspektionen durch die zuständigen Ämter statt. Zusätzlich zu den gesetzlichen Vorgaben unterhalten wir einen internen Arbeitssicherheitsausschuss mit Vertretern aus allen Unternehmensbereichen. Pro Geschäftsjahr werden in der Geschäftsleitung zudem konkrete Ziele und Massnahmen im Bereich der Arbeitssicherheit und des Gesundheitsschutzes verabschiedet.»

Corina Milz, Leiterin Unternehmenskommunikation, Lidl Schweiz

 

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Chefredaktorin, HR Today. cp@hrtoday.ch

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