«Lebenslanges Lernen entpuppt sich häufig als Lippenbekenntnis»
Sich weiterbilden zu lassen klingt gut auf Papier – bis man nach jahrelanger Pause wieder die Schulbank drücken muss. Neurodidaktiker Michael Kühl-Lenjer erklärt, warum uns das Lernen manchmal schwer fällt und wie wir Weiterbildung anders angehen können.
«Lernergebnisse müssen in der beruflichen Praxis angewendet werden, um sich zu festigen»: Michael Kühl-Lenjer. (Bild: zVg)
Der Begriff «Lebenslanges Lernen» wird heute etwas gedankenlos benutzt und verkommt damit zur Worthülse. Wie sehen Sie das?
Michael Kühl-Lenjer: Lebenslanges Lernen klingt gut, ist aber oft eine schmückende Selbstbehauptung. Die Umsetzung dieses hehren Ziels scheitert oft an Kosten, Kompetenzgerangel oder organisatorischen Unzulänglichkeiten. So entpuppt sich «Lebenslanges Lernen» häufig als Lippenbekenntnis.
Man könnte sagen, wir lernen ja sowieso. Jeden Tag. Auch «ungewollt». Beispielsweise durch Begegnungen mit Menschen.
Wir lernen ein Leben lang. Unser Gehirn kann gar nicht anders. Das nicht nur, wenn der Besitzer oder die Besitzerin eine Bildungseinrichtung betritt oder ein Lehrbuch liest. Neues aufnehmen, Sinneseindrücke verarbeiten, etwas Ungewohntes ausprobieren, all das ist ein Festmahl für unser Oberstübchen. Allerdings ist dessen Aufnahmekapazität begrenzt. So nehmen wir nur ein Prozent der in unser Hirn gelangenden Impulse bewusst wahr. 99 Prozent landen dagegen unbewusst in unserem Denkorgan. Beispielsweise, wenn wir Menschen begegnen. Innerhalb von Millisekunden werden alle Eindrücke erfasst und mit bestehenden «Erfahrungen» verglichen. Eine Person wird in Windeseile «beurteilt» und die neu gewonnenen Eindrücke abgespeichert, also gelernt. Ob wir wollen oder nicht, wir haben jemanden kennen gelernt.
Michael Kühl-Lenjer
Michael Kühl-Lenjer ist Businesstrainer mit Schwerpunkt Neurodidaktik. Er gibt Impulsvorträge, Webinare und Präsenztrainings und unterstützt Unternehmen, Weiterbildungsmassnahmen gehirngerecht zu gestalten.
In Ihrem Buch plädieren Sie für «Lernen mit Hirn».
Ich wollte ein praxisorientiertes Buch für Lehrende und Lernende verfassen, das auch aktuelle Erkenntnisse der Hirnforschung miteinbezieht. Neurodidaktik ist keine Modeerscheinung. Neue Ansätze aus der Hirnforschung können Lernprozesse wirksam erweitern und das Lernen effektiver sowie nachhaltiger gestalten. Vereinfacht gesagt, versucht die Neurodidaktik das Lernen so zu gestalten, wie es unser Gehirn am besten kann.
Wie können Firmen das für den Betrieb notwendige Lernen fördern?
Die innere Einstellung der Entscheidungsträger und die Lernkultur sind erforderliche Voraussetzungen für erfolgreiches betriebliches Lernen. Beispiele: eine mit Bildungsexperten besetzte Trainingsabteilung, ein jährlicher Fortbildungskatalog, in den sich die Mitarbeitenden eintragen können, sowie ein Bildungskonto, das jedem Mitarbeitenden zur Verfügung steht. Stattdessen erleben wir oft, dass eine betriebliche Weiterbildung wie eine Insel aus dem Meer des beruflichen Alltags herausragt. Kaum wieder am Arbeitsplatz, türmen sich Datenberge, ein Meeting jagt das nächste.
Was bleibt?
Wenig. Lernergebnisse werden zügig stillgelegt – bis zur nächsten Weiterbildung. Das ist Gift für die Lernkultur. Lernergebnisse müssen in der beruflichen Praxis angewendet werden, um sich zu festigen.
Das heisst?
Lassen Sie mich drei Beispiele herausgreifen. Erstens: Bis in die heutige Zeit gilt der kühle Verstand als das «Kronjuwel der Schöpfung». Demzufolge enthalten zahlreiche Fortbildungen überwiegend Zahlen, Daten und Fakten. Eine «rationale» Vermittlung von Informationen birgt aber das Risiko, dass die grauen Zellen unbedeutenden Datenmüll gnadenlos entsorgen. Zweitens: Emotionen sind der Herzschrittmacher des Lernens. Das Gehirn ignoriert Abstraktes. Drittens: Unser Gehirn denkt in Bildern. Nur wenn wir das bildhafte Gedächtnis erreichen, können wir Menschen zu einer Verhaltensänderung bewegen.
Erfordert das ein Umdenken bei Referenten und Lernenden?
Lehrenden sollten Lerninhalte über möglichst viele Sinne vermitteln und darauf achten, dass der Lernstoff für Lernende persönlich bedeutsam, nützlich und anwendbar ist, an bestehendes Wissen anknüpft und genügend wiederholt wird. Druck und ein Übermass an Lernstoff bremsen den Lernerfolg. Positive Emotionen dagegen fördern ihn.
Buchtipp: Lernen mit Hirn
Michael Kühl-Lenjer: Lernen mit Hirn, BusinessVillage, 2022, 276 Seiten.