HR Today Nr. 11/2021: Serie – Sozialversicherungen

Long Covid: Wer zahlt?

Springt die Unfallversicherung bei Langzeitfolgen von Covid-19 (Long Covid) ein? Eine Auslegeordnung.

Die Langzeitfolgen von Covid-19 (Long Covid) werden uns wohl aus sozialrechtlicher Sicht noch längere Zeit beschäftigen: Besteht diesbezüglich genügender (Sozial-)Versicherungsschutz? Die Beantwortung dieser Frage ist für die finanzielle Absicherung der betroffenen Personen entscheidend. Vorliegend stehen die Invalidenleistungen der Unfallversicherung im Fokus.

Dauern die Beschwerden nach einer Infektion mit dem Coronavirus länger als drei Monate, liegt aus medizinischer Sicht ein sogenanntes «Post-Covid-19-Syndrom» vor. Die möglichen Langzeitbeschwerden sind Symptome wie Fatigue (Müdigkeit), Atembeschwerden, Leistungs- bzw. Aktivitätseinschränkungen, Kopfschmerzen sowie Riech- und Schmeckstörungen. Die genauen Ursachen dieser Beschwerden sind zurzeit nicht bekannt. Die immer wieder genannte Müdigkeit (Fatigue) tritt auch bei anderen Viruserkrankungen (z. B. Epstein-Barr-Virus, Influenzaviren) auf. Gerade bei der Diagnose «chronische Müdigkeit» können mehrere Ursachen zusammenspielen. Zurzeit ist Long Covid (noch) nicht als eigenständiges Krank­heitsbild anerkannt, die einzelnen Beschwerden können aber ­Sozialversicherungsleistungen auslösen.

1. Hürde: Covid-19 als Berufskrankheit?

Was die für alle Arbeitnehmenden obligatorische Unfallversicherung betrifft, ist vorab zu klären, ob ein versichertes Risiko vorliegt. Infrage kommt vor allem eine Berufskrankheit, wobei Infektionskrankheiten bei Arbeiten in Spitälern, Laboratorien, Versuchsanstalten und dergleichen gemäss gesetzlicher Regelung als arbeitsbedingte Erkrankungen gelten. Zu denken ist namentlich an eine berufsbedingte Exposition mit dem Coronavirus durch infizierte Patienten in Spitälern, Alters- und Pflegeheimen oder bei Spitex-Diensten. Bei diesen Arbeiten wird eine berufliche Verursachung vermutet, solange die konkreten Umstände des Einzelfalls nicht klar dagegensprechen.

Bei weiteren Personengruppen (beispielsweise Detailhandel, Polizei, Bildungseinrichtungen usw.) wird eine Berufskrankheit nur einschränkend und unter hohen Kausalitätshürden anerkannt. Die teilweise kritisierte Rechtsprechung verlangt, dass die versicherte Person für eine gewisse Dauer einem typischen Berufsrisiko ausgesetzt ist. Durch ihre Berufstätigkeit muss eine bestimmte Personengruppe mindestens viermal häufiger von einem Leiden betroffen sein als die Bevölkerung im Durchschnitt. Dieser Nachweis ist in aller Regel schwierig zu erbringen.

2. Hürde: Zurechnung der Langzeitbeschwerden

Ist Covid-19 in einem konkreten Fall als Berufskrankheit anerkannt, liegt die zweite Hürde in der Frage, ob die gesundheitlichen Langzeitbeschwerden der Berufskrankheit zugerechnet werden können. Dazu muss die Berufskrankheit nach der Rechtsprechung eine wesentliche Teilursache der gesundheitlichen Langzeitfolgen sein. Gerade bei Leiden mit mehreren zusammenwirkenden Ursachen kann dies eine hohe Hürde für Invalidenleistungen sein.

Das gilt etwa für unspezifische Beschwerden wie «chronische Müdigkeit». Allenfalls stuft die Rechtsprechung die Coronavirus-Infektion diesbezüglich nur als «austauschbaren Anlass» im Sinne einer blossen Gelegenheitsursache für die Langzeitbeschwerden ein, was die juristische Zurechnung erschwert. Möglicherweise rechtfertigt sich auch eine Abstufung nach dem Schweregerad der Coronavirus-Infektion und ihrer körperlichen Folgen.

Heikle Zurechnungsfragen zeichnen sich ab, die in letzter Instanz vom Bundesgericht zu klären sein werden. Wie die Rechtsprechung zur Lyme-Borreliose im Anschluss an einen Zeckenbiss zeigt, ist es nicht ausgeschlossen, dass unspezifische Allgemeinsymptome mit nicht restlos geklärter Ursache einem (versicherten) Infektionsgeschehen zugerechnet werden können.

3. Hürde: Arbeits- und Erwerbsfähigkeit

Gelingt die Zurechnung von Langzeitbeschwerden zu einer Berufskrankheit, bleibt als dritte Hürde für Dauerleistungen zu klären, welche Auswirkungen die Beschwerden auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit einer Person haben. Hierzu gibt es eine inzwischen etablierte Rechtsprechung des Bundesgerichts, die auch bei unspezifischen Beschwerden eine ergebnisoffene Abklärung sicherstellen soll (sog. Indikatorenpraxis).

Dabei wird sich zeigen, ob das «Post-Covid-19-Syndrom» oder eine covidbedingte Fatigue als eigenständige Krankheitsbilder anerkannt werden können, denen durch das Coronavirus mittelbar eine organische Ursache zugrunde liegt. Dies könnte nicht nur die oben erwähnten Zurechnungsprobleme (2. Hürde) entschärfen, sondern auch den Nachweis der Auswirkungen auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit erleichtern (3. Hürde). Letzteres wäre namentlich auch für die Invalidenversicherung und für die berufliche Vorsorge von Bedeutung.

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Dr. iur. Philipp Egli, Rechtsanwalt, Dozent und Leiter des Zentrums für Sozialrecht an der ZHAW in ­Winterthur.

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