HR Today 3/23: Interview mit Helena Trachsel

«Menschen wollen mehr Lebenszeit für andere Aufgaben»

In der vergangenen Dekade sind private und öffentlich-rechtliche Arbeitgebende der Gleichstellung und der Diversität ein grosses Stück nähergekommen, lautet das Fazit von Helena Trachsel, die nach zwölf Jahren die Leitung der Fachstelle Gleichstellung des Kantons Zürich an ihre Nachfolgerin übergab. Ein Rückblick und eine Vorschau.

Sie leiteten die Fachstelle Gleichstellung im Kanton Zürich über zwölf Jahre. Jetzt gehen Sie in den Ruhestand. Wie fühlt sich das an?

Helena Trachsel: Jetzt beziehe ich noch meine Ferien. Bis zu meinem letzten Arbeitstag am 31. März dachte ich jedoch nicht an mein Arbeitsende. Dass ich nun als Pensionierte angesprochen werde, fühlt sich noch etwas seltsam an. Es zeigt mir, dass ein mich prägender, sehr wichtiger Lebensabschnitt zu Ende gegangen ist.

Ein Rückblick: Was war Ihr grösster Erfolg als Leiterin der Fachstelle?

Ganz generell, dass es gelang, die Fachstelle Gleichstellung in der Bevölkerung breiter bekannt zu machen. Wir wurden regelmässig für Workshops oder die Beratung von Menschen verschiedener Kulturgruppen zu Top-Themen wie Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben, Lohngleichheit oder in Fragen zum Diskriminierungsschutz angefragt. Ein Höhepunkt im letzten Arbeitsmonat war, als ich am 8. März anlässlich des Internationalen Frauentags vom türkischen Frauenverein zu einem Vortrag eingeladen wurde und den Tag mit ihnen feiern konnte.

Helena Trachsel

Helena Trachsel war von 2011 bis 2023 als Leiterin der Fachstelle Gleichstellung des Kantons Zürichs tätig. Davor war sie 13 Jahre in der Privatwirtschaft als Direktorin für den Auf- und Ausbau eines D&I-Managements verantwortlich. Ende März 2023 trat sie von ihrer Funktion zurück und übergab die Leitung ihrer Nachfolgerin Susanne Nef, die Themen wie den Diskriminierungsschutz, die Lohngleichheit sowie die Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben weiter vorantreibt. Fachstelle-Gleichstellung

 

Was bedeutet für Sie das Wort «Gleichstellung»? Kann man alle Menschen «gleich» behandeln? Braucht es nicht vielmehr individuelle Ansätze?

Der Begriff «Gleichstellung» bildet die gesellschaftlichen Ansprüche an die gleichen Rechte nur unvollständig ab. Das Gleichstellungsgesetz wurde in Bereichen wie der unbezahlten Betreuungsarbeit und der Lohngleichheit noch nicht umgesetzt, deshalb ist es nach wie vor wichtig, von Gleichstellung zu sprechen und in diesem Sinne zu handeln. Dies bedingt, «Equity» zu implementieren, ein Fachbegriff, der für «Chancengleichheit», und für «gerechte Teilhabe» steht. Das beinhaltet die Forderung, allen Menschen die gleichen Möglichkeiten zuzusichern. Arbeitgebende, die Politik und wir als Gesellschaft sollten unseren Beitrag leisten, um diese Ungleichheiten zu korrigieren.

Welche gesellschaftlichen Fortschritte gab es seit 2010?

In keiner anderen Dekade wurden so viele Gesetze in Kraft gesetzt, welche die Chancengleichheit fördern. Beispielsweise das neue Namens- und Bürgerrecht (2013), die Massnahmen gegen die Zwangsheirat (2013), Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, die sogenannte Istanbul-Konvention (2014), die gemeinsame elterliche Sorge als Regelfall (2014), Verbot der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung im Strafgesetzbuch (2020), Revision des Gleichstellungsgesetzes mit der Einführung der Lohnanalysen für Betriebe mit über 100 Mitarbeitenden (2020), die Aktienrechtsrevision: Geschlechterrichtwerte für VR und GL (2021), Inkraftsetzung der Ehe für alle (2021), Einführung eines Vaterschaftsurlaubs (2021), und sehr wichtig: das neue Bundesgesetz zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung (2021). Somit sind die Rahmenbedingungen gegeben, es hapert aber noch bei der Umsetzung. Das bedarf einer zusätzlichen Sensibilisierung. Beispielsweise mit Kampagnen auf Social Media.

Gleichstellung betrifft auch Diversität in den Unternehmen. Wie sieht es damit aus?

Im Aktienrecht sind die Geschlechterrichtwerte verankert. Dieses Gesetz fordert 20 Prozent Frauen in der Geschäftsleitung und 30 Prozent im Verwaltungsrat. Das bedeutet jedoch noch nicht, dass Arbeitgebende auf allen Mitarbeitendenstufen genügend divers sind. Es gibt beispielsweise kaum Jüngere oder Menschen mit Behinderung in Führungspositionen. Wie auch immer sich die Belegschaft zusammensetzt: Wichtig ist, dass Firmen ihre Kundensegmente und Märkte im Auge behalten. Die Kundschaft sollte sich in der Belegschaft spiegeln. Das ist ein strategisches Thema für den Unternehmenserfolg.

Manche Menschen haben es schwerer im Arbeitsmarkt als andere. Zum Beispiel chronisch Kranke. Wie sehen Sie das?

Wer während einer Anstellung chronisch erkrankt, wird in der Regel gut betreut. Firmen suchen nach Lösungen, um Mitarbeitende zu halten und ihnen trotz reduziertem Lohn eine Existenz zu sichern. Chronisch Erkrankte auf Arbeitssuche haben es dagegen tatsächlich schwer. Arbeitgebende sind aber innovativ: An meiner früheren Arbeitsstelle schufen wir einen Ability-Pool, der einer erkrankten, teilzeiterwerbstätigen Person mit diesen zusätzlichen finanziellen Mitteln zu einem existenzsichernden Einkommen verhalf. So gelang es, einen von MS betroffenen Mann in eine 100-Prozent-Anstellung zu begleiten. Damit Betroffene ein eigenständiges und unabhängiges Leben führen können, braucht es jedoch die Flexibilität aller Beteiligten – der Betroffenen, der Arbeitgebenden, der Ärzte, der IV-Jobcoaches, der Therapeuten. Ein anderes Themenfeld sind psychische Erkrankungen. Es kann Angst machen, wenn eine psychisch erkrankte Person durch einen Vorfall unruhig oder aggressiv wird. Um damit umzugehen, braucht es die Offenheit, die Dinge beim Namen zu nennen und Auffangmöglichkeiten anzubieten. Dafür ist der Dialog zwischen Arbeitnehmenden, Arbeitgebenden und den Betreuenden unabdingbar.

Helena Trachsel

«Wir sollten vom starren Anwesenheitsdenken wieder wegkommen», findet Helena Trachsel. (Bild: zVg)

Ein anderes Inklusionsthema sind die wenigen Frauen in der Führungsetage. Inwiefern liegt es daran, dass «Karriere» häufig bedeutet, «alles auf eine Karte zu setzen», also auf ein traditionelles, eher männliches geprägtes Verständnis von Karriere, was mit Stress verbunden ist, einsam machen kann, eine Ellbogenmentalität erfordert und mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen einhergeht?

Das ist ein Vorurteil. Studien zeigen, dass Menschen in Entscheidungspositionen länger gesund bleiben. Erklären lässt sich das mit gewissen Privilegien. Etwa der Anerkennung des Status, der Leistung, des höheren Salärs und somit einer besseren Lebensqualität. Es sind aber bei Weitem nicht nur Frauen, die auf eine klassische Karriere verzichten: Nur wenige Männer wollen und können eine Funktion an der Unternehmensspitze einnehmen. Dass Führungskräfte auf ein Privatleben verzichten müssen, kann ich nicht bestätigen: Ich kenne viele Menschen in Entscheidungsfunktionen, die ihr Privat- und Berufsleben gut vereinbaren können. Das gelingt, wenn man sich Zeitinseln schafft und Prioritäten setzt. Dennoch sollten wir unser Verständnis von Karriere hinterfragen. Die Aufgaben einer Top-Position lassen sich teilen. Geteilte Führung wirkt zudem vorbildhaft und hat einen guten Einfluss auf ein ausgewogenes Selbstvertrauen.

Inwiefern brauchen wir ein neues Verständnis von «Karriere»?

Menschen wollen mehr Lebenszeit für andere Aufgaben. Können Mitarbeitende ihre privaten mit den geschäftlichen Angelegenheiten vereinbaren, haben sie nicht mehr das Gefühl, ihr Leben zu verpassen. Es kommt auch der Firma zugute, wenn sich Mitarbeitende nicht ausgelaugt fühlen, sondern mit Energie ihren Alltag bewältigen. Wir sollten deshalb vom starren Anwesenheitsdenken wieder wegkommen, Flexwork wo möglich umsetzen, eine Vertrauenskultur schaffen, zeitgemässe Beschäftigungsformen einführen, flexible Arbeitszeitmodelle etablieren und Mitarbeitenden einen grossen Gestaltungsspielraum geben, den sie nach ihren privaten Bedürfnissen nutzen können. So lässt sich Berufliches auch in einer Vollzeitstelle mit Privatem vereinbaren. Das gilt besonders für Führungskräfte und erlaubt ihnen, nicht ständig anwesend zu sein. Dafür braucht es aber eine Haltungsänderung: nämlich jene, dass die Auftragserfüllung und die Leistung auch ohne ständige Anwesenheit stimmen.

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Chefredaktorin, HR Today. cp@hrtoday.ch

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