HR Today Nr. 5/2016: Recruiting

Mit Video-Recruiting zum Traumkandidaten?

Was vor wenigen Jahren undenkbar schien, wird durch sinkende Kosten, schnelle Internetanbindungen und neue Applikationen zur Selbstverständlichkeit. Immer mehr Firmen schwören auf Video. Doch was bringt es wirklich? Wir haben eine 
Bestandesaufnahme gemacht.

Jede zehnte Einstellung ist eine Fehleinstellung. So lautet die Quintessenz einer Studie der Human-Resources-Consulting-Firma Robert Half. So erstaunt es wenig, dass gemäss derselben Studie mehr als ein Drittel der HR-Manager immer häufiger zusätzliche Tests und Assessments einsetzen, um herauszufinden, wie gut ein Kandidat zum Unternehmen passt. Dazu greifen die Firmen vermehrt auf Video zurück. «Zeitversetzte Videoaufnahmen» nennt sich die am häufigsten eingesetzte Technologie. Ob «We Pow», «Sonru» oder Apps wie «Talentcube»: Kandidaten bewerben sich mit Videoclips und beantworten jobspezifische Fragen. Um Reisekosten einzusparen, setzen zudem viele Firmen bei Face-to-Face-Interviews vermehrt auf Skype und Co. Daneben entstehen zusätzliche Formen der Videokommunikation: zum Beispiel die Live-Streaming-App «Periscope» von Twitter, die es Kandidaten ermöglicht, sich in Echtzeit an Frage- und-Antwort-Sessions mit Führungskräften oder HR-Fachpersonen zu beteiligen oder Fragen zu bestimmten Jobs beantworten zu lassen.

Webapplikationen wie «Career Sushi» oder «HR Clinic» kehren diesen Prozess um: Kandidaten erstellen individuelle Videoprofile und übermitteln den Recruitern ihre Profillinks zusammen mit dem Lebenslauf.
Vor allem jüngere Kandidaten scheinen die neuen Selbstdarstellungsmöglichkeiten zu schätzen. So befürworten gemäss einer Studie des Videokonferenzanbieters «Blue Jeans» doch 73 Prozent von 4000 befragten Arbeitnehmenden aus Grossbritannien, Frankreich, Deutschland und den USA den Einsatz von Videos im Rekrutierungsprozess.

Hype mit Haken

Doch die Bild-Ton-Übertragung hat einen Haken: So schnitten Video-Testkandidaten in einer Studie der kanadischen De Groote School of Business in simulierten Bewerbungsgesprächen deutlich schlechter ab als in den Gesprächen, in denen sich Kandidat und Recruiter gegenübersassen. Den Grund für die schlechtere Beurteilung ortet De-Groote-Professor für Personalmanagement, Willi Wiesner, darin, dass die Kandidaten sich in einer künstlichen und oft einseitigen Situation befinden: So müssen sie während des Video-Interviews beispielsweise geradeaus in die Kamera blicken, weil sie sonst abwesend wirken. Durch die fehlende Rückmeldung in Form von Gestik und Tonalität seien ausserdem die Reaktionen des Gegenübers nicht kalkulierbar.

«Ich habe mich unwohl und unsicher gefühlt», bestätigt ein Kandidat, der soeben ein solches Video-Interview absolviert hat, diese Einschätzung. So habe er bei seinen Antworten nicht nachdoppeln oder sich an sein Gegenüber anpassen können: «Man unterhält sich ja quasi mit einer Maschine und spürt nicht die geringste menschliche Reaktion.» Wiewohl Breitbandanbindungen heutzutage Standard sind, gestaltete sich für ihn das Heraufladen der «Videokonserven» als kein einfaches Unterfangen: Es habe «eine gefühlte Ewigkeit gedauert». Konkret: sechzig statt der vorgesehenen dreissig Minuten.

Cases: Migros, Upc Cablecom, CERN

Doch wie sieht es von Seiten der Unternehmen aus? Ob Aufzeichnung oder Live-Übertragung: Videos sollen die Vergleichbarkeit von Kandidaten ermöglichen, Diskriminierungsfaktoren ausschliessen, die Time-to-Hire verkürzen, eine breitere Auswahl von tatsächlich geeigneten Kandidaten ermöglichen, den Prescreening-Prozess beschleunigen und es den Firmen ermöglichen, mit Kandidaten aus der ganzen Welt in Kontakt zu treten.

Der Migros-Genossenschaftsbund ist ein Unternehmen, das diese Videotechnologie seit Mitte 2013 anwendet. HR-Projektleiter David Girod beurteilt den bisherigen Einsatz durchgehend positiv: «Live Streaming nutzen wir, um den Kandidaten kennenzulernen, wenn beispielsweise die Anreise sehr lang ist.» Die zeitversetzte Videotechnologie von We Pow setzt der Detailhandelsriese vornehmlich bei der Vorauswahl von Kandidaten ein. Dank der Rekrutierungseffizienz sei damit eine breitere Selektion möglich. Dies erhöhe die Chancen auf eine Einladung von Bewerbenden, «die auf den ersten Blick keinen aussergewöhnlichen Lebenslauf haben, in einer Videosituation aber überzeugen können». Rund 2250 Interviews hat der Migros-Genossenschaftsbund mit dieser Software bis Anfang März 2016 abgewickelt.

Auch Upc Cablecom setzt seit 2013 auf die Technologie von We Pow und verwendet diese zur Vorselektion der Vielzahl an Bewerbungen von Kundenberatern: «Wir wollen in einem ersten Schritt erfahren, wie kommunikativ die Kandidaten sind, welche Sprachkenntnisse sie mitbringen und ob sie die notwendige technische Affinität als Kundenberater haben», erläutert die Pressestelle des Kommunikationsunternehmens. So vermeide das Unternehmen, Bewerber einzuladen, die aufgrund ihrer fehlenden Sprachkenntnisse als Kundenberater nicht geeignet seien.

Beim Europäischen Institut für Teilchenbeschleunigung CERN gehören zeitversetzte Video-Interviews bereits seit 2011 zum Rekrutierungsrepertoire und werden über alle Hierarchien hinweg genutzt: «Wir verwenden diese Technologie bei allen offenen Stellen, von der Administration über Feuerwehrleute bis hin zu Ingenieuren und Technikern – inklusive Kader», erläutert James Allibon, Recruiting-Spezialist beim CERN. Dieses Vorgehen ermögliche es, «Anforderungen zu validieren, die für den jeweiligen Job notwendig sind», und zu erkennen, «wie gut ein potenzieller Mitarbeitender die CERN-Sprachen Englisch und Französisch beherrscht». Das Aussehen des Bewerbers und seine Redegewandtheit seien beim CERN nicht matchentscheidend. «Wichtig ist, dass die Bewerbenden die notwendige Information rüberbringen.»

Dank der gewonnenen Zeitersparnis durch das Video-Recruiting-System von Sonru sichtet das CERN gleichzeitig eine höhere Zahl an Lebensläufen. Die gründlichere Vorselektion führte dazu, dass das Institut nur noch halb so viele Bewerber zum Interview nach Genf einlädt. Pro ausgeschriebene Stelle seien das noch vier bis fünf Kandidaten. Keine zu vernachlässigende Einsparung, rekrutiert das CERN doch in 21 Mitgliedstaaten und bezahlt alle Reisekosten. Insgesamt hat das Institut in den vergangenen vier Jahren mit diesem Recruiting-Verfahren 630 Stellen besetzt und 7500 Videos gesichtet.

Das Eis brechen

«Welche drei Eigenschaften treffen auf Sie am meisten zu und wieso haben Sie diese gewählt?», lautet eine der typischen fünf bis sieben Fragen, die der Migros-Genossenschaftsbund seinen Kandidaten stellt. Es gehe darum, «den Bewerbenden mit offenen Fragen einen Exkurs zu erlauben», sagt David Girod.

Auch beim CERN erwarten den Bewerber sieben Fragen. Dabei sei die erste eher als «Eisbrecher» zu gewichten, bemerkt James Allibon. «Der Kandidat stellt sich kurz vor und beantwortet die Frage, weshalb seine Bewerbung für die ausgeschriebene Position relevant ist.» Mit der letzten Frage könnten Bewerber zusätzliche Kommentare abgeben. Die restlichen fünf Fragen dienten dazu, herauszufinden, «wie Kandidaten in der Praxis Projekte abgewickelt haben, Herausforderungen angegangen sind und Lösungen gefunden haben».

Sowohl beim Migros-Genossenschaftsbund als auch bei Upc werden die Videoaufnahmen vom HR und von den Linienvorgesetzten gesichtet. Beim CERN bekommen je nach Position auch die Teammitglieder die Videoaufnahmen potenzieller Kollegen zu Gesicht.

Wie immer das Video-Recruiting gestaltet wird: Wer dem Kandidaten die Angst vor einer künstlichen Situation nehmen will, muss im Video-Recruiting-Prozess Transparenz schaffen: etwa indem sich ein Mitglied des HR-Teams im Video vorstellt, den Prozessablauf erklärt, einen Einblick in die Firmenkultur gibt und sich zum Schluss mit einem Mail für die Teilnahme bedankt.

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Chefredaktorin, HR Today. cp@hrtoday.ch

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