Nicht alle Streber werden Mustermitarbeiter
Den Abschluss einer renommierten Uni und ein Top-Zeugnis: Interessiert uns nicht, sagt Google. Der Suchmaschinen-Konzern stellt Noten ein schlechtes Zeugnis aus, wenn es um die Rekrutierung geht. Die Leistungen an den Schulen hätten sich nicht als aussagekräftiges Kriterium für gute Mitarbeiter erwiesen. Klar, bei Google ist immer alles anders. Trotzdem bleibt die Frage: Wie aussagekräftig sind Noten im Bewerbungsprozess?
Nur viel zu lernen macht es später nicht unbedingt einfacher, eine gute Stelle zu finden (Bild: iStockphoto).
Minimalist oder Streber? Beide können den Uniabschluss schaffen. Doch während die Vierernoten in der Ausbildung niemanden stören, können sie im Bewerbungsprozess ein Manko sein. Dann nämlich, wenn auf Stellensuche ein Mitbewerber mit dem ungefähr gleichen Profil Glanznoten vorlegen kann.
Doch nicht überall beeindrucken gute Noten gleich nachhaltig - zumindest nicht, wenn der Abschluss nicht gerade erst gestern war. Google hat den Noten in den Bewerbungsdossiers den Rücken gekehrt, wie Senior Vice President of People Operations, Laszlo Bock, in einem Interview mit der New York Times sagt. Die Kategorisierung von Bewerbern nach Notenschnitt oder Abschlusszeugnissen hätte sich als komplett wertlos erwiesen. Die Fähigkeit, nach zwei, drei Jahren im Konzern eine gute Leistung zu bringen, habe überhaupt nichts mehr damit zu tun hat, wie gut jemand in der Schule war. Bock begründet, dass akademische Räume künstliche Umgebungen seien und wer in ihnen erfolgreich ist, auf sie konditioniert sei. Das aber nützt Google nichts. Die Einstellungs-Prozesse wurden dementsprechend umgekrempelt. Mit dem Resultat, dass in einigen Abteilungen bis zu 14 Prozent der Beschäftigten nicht einmal über einen College-Abschluss verfügen.
Durchschnittsnote - dafür unabhängig
Was sagen gute Noten also aus? «Sie widerspiegeln die akademischen und fachlichen Leistungen im universitären Umfeld», sagt Martin Ghisletti, Leiter des Career Centers an der ETH. Den «Vorwurf» der Konditionierung von Google streitet er damit nicht völlig ab. Noten an den Hochschulen würden vor allem für den Hochschul-Alltag gemacht und nicht vergeben, um die Arbeitsmarktfähigkeit der Absolventen zu bewerten. Eine hohe Note ist auch für Ghisletti längst keine Garantie für eine erfolgreiche Arbeitskarriere. Für den Arbeitsalltag wichtige überfachliche Kompetenzen wie Empathie, Selbständigkeit, der Auftritt, das Selbstbewusstsein und die Kommunikationsfähigkeit würden meist nicht in Noten widerspiegelt. Auch die Innovationsfähigkeit, selbständiges Denken und Kreativität sind in Prüfungen nicht explizit zu messen. «Am ehesten lassen sich diese Eigenschaften aus den Bewertungen von Bachelor- und Masterarbeiten herauslesen.»
Aber auch da würde Ghisletti nicht allzu blind auf Noten vertrauen: «Noten müssen im Kontext gelesen werden. Wenn beispielsweise ein Kandidat ein durchschnittliches Zeugnis mitbringt, sein Studium aber selber finanziert hat, sich in seiner Freizeit in einer Organisation engagiert oder an diversen Stellen eingebunden ist, liegt ein anderes Profil vor wie bei einem Absolventen, der zwar sehr gute Noten mitbringt, sich aber auch immer rein auf das Studium konzentriert hat.»
Als Leiter des Career Centers an der ETH steht Ghisletti an der Schnittstelle von Hochschule und Wirtschaft. Er weiss, worauf Arbeitgeber achten. «Es gibt einzelne Branchen wie Consulting, wo ohne hervorragende Noten gar nichts geht. Generell aber würde ich sagen, ist die Wichtigkeit von Noten nicht extrem hoch. Das zeigt sich auch darin, dass viele Unternehmen in Bewerbungen gar nicht explizit nach Noten fragen.» Für diese würde ein Abschlussdiplom der ETH genügen, um die Kandidaten zu einem Interview einzuladen.
Fürs Französisch nützlich
Michael Kraft, Verantwortlicher Jugendpolitik und -beratung bei KV Schweiz, stellt eine andere Tendenz fest. «Statistisch gesehen finden die Lehrabgänger mit dem höchsten schulischen Profil am schnellsten und einfachsten eine Stelle.» Die dreijährige KV-Lehre kann auf drei Stufen absolviert werden: Profil B steht für die Basis-Grundbildung, E für die erweiterte Grundbildung mit einer zweiten Fremdsprache und M für den Abschluss mit Berufsmaturität. «Aus unserer Sicht ist die Bevorzugung von Absolventen des M-Profils nicht unbedingt sinnvoll, denn betrieblich ist die Ausbildung auf allen drei Stufen gleich. Den Unterschied macht das rein schulische Wissen, das für den Arbeitgeber vermutlich nicht im Zentrum steht.»
Auch Kraft betrachtet die Schulnoten darum als nicht sehr aussagekräftiges Kriterium, wenn es um die Arbeitskompetenzen geht. Nur bei den Sprachen macht er eine Ausnahme: «Sucht ein Unternehmen einen Mitarbeiter mit guten Französischkentnissen für den Kontakt mit den welschen Kunden, ist die Französischnote sicher kein schlechter Indikator.»
Kontrollmittel statt Fähigkeitsausweis
Aussagekräftig oder nicht - in der Schweiz wird von verschiedensten Seiten immer wieder über die Wirkung und den Wert von Noten diskutiert. «Ein Dauerbrenner», sagt Bildungsforscher Urs Moser von der Universität Zürich auf die Notendiskussion angesprochen. Er glaubt aber nicht, dass wir uns in nächster Zukunft von den Noten verabschieden werden. «Im Moment herrscht eher Einigkeit, dass es Noten braucht.» Braucht, vor allem für die Schulen. «Sie haben einen Selektionsauftrag. Dafür benötigen sie ein Instrument, das rekursfähig ist. Bis jetzt eignen sich Noten am besten.»
Studien aus Zürich haben laut Moser gezeigt, dass Noten vor allem bei Schulübertritten ein Erfolgsmodell sind. Will heissen: Von der Primarschule ins Gymnasium haben sie sich als Selektionskriterium bewährt. Ob sie beim Übertritt von der Schule in den Berufsalltag ähnlich aussagekräftig sind, wagt Moser zu bezweifeln. Vor allem aus einem Grund: «Die Note hängt stark von der Bezugsgruppe ab. Je nach Schulmodell, Kanton und Stärke der Klasse bedeutet eine fünf nicht überall das gleiche.» Das mache es zum Beispiel für Lehrmeister sehr schwierig, die vorgelegten Noten zu interpretieren. Mit der Ausdifferenzierung der Ausbildungen habe diese Schwierigkeit eher zugenommen. Dass Noten sowohl als Motivations- und Kontrollmittel innerhalb der Schule dienen, aber auch von Aussenstehenden klar interpretiert werden können, sei eine grosse Herausforderung, sagt Moser.
Trotzdem versuchen Bildungspolitiker diese Hürde zu nehmen. «Es sind Bestrebungen im Gang, die Noten mehr an klar definierte Leistungen zu binden und weniger abhängig vom Rahmen zu machen. Die Lehrer sollen ihren Massstab klassenübergreifend eichen können.» Für Moser lohnt sich dieser Aufwand, denn der Vorteil von Noten ist klar: Die Zahlen an sich sind simpel und einfach verständlich. «Und gesamthaft gesehen ist ihre Aussagekraft besser als erwartet - auch für Arbeitgeber.» Nur sollten sie als ein Stein im Mosaik gesehen werden, und nicht als alleiniges Auswahlkriterium. «Kein Mensch lässt sich mit einer Zahl beschreiben.»
Stimmen aus der Praxis
«Generell sind uns Berufserfahrung bei namhaften Agenturen und deren Referenzen wichtiger als gute Noten. Wie stark die Noten und der Abschluss gewichtet werden, hängt aber auch von der Tätigkeit ab. Bei Kandiaten für Strategie und Planung sind die Zeugnisse wichtiger als für Kreativ-Stellen. Bei Kreativen zählen vor allem die Awards, die sie vorweisen können. Zudem kennt man die guten Kreativen in der Branche - sie versucht man, für sich zu gewinnen.» Lucia Mitsch, HR-Verantwortliche Jung von Matt
«Bei der Rekrutierung von Sekretärinnen schaue ich mir vor allem die Arbeitszeugnisse gut an. Das sagt mehr aus als Schulnoten. Für den Empfang haben wir auch schon Quereinsteigerinnen rekrutiert. Wichtig ist der 1. Eindruck, den das Dossier macht und dass der Lebenslauf keine Lücken vorweist.» Daniela Tarnutzer, HR-Mitarbeiterin bei Wenger & Vieli
«In erster Linie geht es Novartis darum, die fähigsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu gewinnen. Dabei ist ein wichtiges Kriterium, dass die Kandidatinnen und Kandidaten die nötigen Anforderungen und Erfahrungen für die ausgeschriebene Position mitbringen. Als global tätiges Unternehmen legen wir grossen Wert darauf, Mitarbeitende zu finden, die sich in einem internationalen Umfeld wohl fühlen und möglicherweise schon andere Kulturkreise kennen gelernt haben. Insofern stellen interkultureller Umgang, Sprachkenntnisse und andere ausseruniversitäre Aktivitäten durchaus einen Pluspunkt im Lebenslauf dar. Darüber hinaus legt Novartis grossen Wert auf Vielfalt und Integration – unterschiedliche Ausbildungs- und Wissenshintergründe und verschiedene Denkweisen sind ausdrücklich erwünscht und werden innerhalb des Unternehmens gefördert.» Esther Keller, Public Relations Managerin Novartis