Tagtraum Stabilität: Wie agile Unternehmen durch Werte zusammenhalten
In einer Welt, die sich ständig wandelt, klammern sich viele Menschen an die Illusion der Stabilität. Doch was passiert, wenn Veränderung die einzige Konstante bleibt und unser Bedürfnis nach Beständigkeit zunehmend zur Belastung wird? Der Schlüssel könnte in der Agilität liegen – doch diese kann nur dann funktionieren, wenn die Unternehmenskultur der Dynamik gewachsen ist.
Raus aus den Wolken: Stabilität ist eine Illusion, schreibt Gastautor Georg Kraus. (Bild: iStock)
Viele Menschen reagieren auf Veränderungen in ihrem beruflichen und privaten Umfeld so, als gebe es einen Normalzustand, in dem sich nichts verändert. Dabei ist Veränderung die einzige Konstante im Leben.
Trotzdem haben die meisten Menschen eine grosse Sehnsucht nach Stabilität. Diese ist oft so gross, dass sie im Alltag die Augen zukneifen und das Leben in so kleinen Zeitabschnitten betrachten, dass sie die Veränderung nicht sehen – oder nicht wahrhaben wollen. Immer mehr Menschen entwickeln eine Zukunftsangst, reagieren gereizt und suchen sogar Halt und Orientierung in irrationalen Verschwörungstheorien.
Doch warum ist die Sehnsucht vieler Menschen nach Stabilität so gross? Eine Ursache dafür ist: In unserem Alltag erfordert es normalerweise wenig Energie, Dinge stabil zu halten. Verändern hingegen kostet Kraft. Doch reicht das als Rechtfertigung für ein Festhalten an der Illusion Stabilität? Nein! Wer diesen Tagtraum weiterträumt, macht sich etwas vor.
Doch wie befreien wir uns aus dem Dilemma, dass wir Menschen einerseits eine tiefe Sehnsucht nach Stabilität haben und andererseits alles im Fluss und Wandel ist?
Mit der neuen Normalsituation «Dauerunruhe» leben
Diese Frage beschäftigt viele Unternehmensführer. Seit einigen Jahren geistern Akronyme wie VUKA und BANI durch die Management-Diskussion. Es fasst formelhaft zusammen, dass wir in einer immer volatileren, unsichereren, komplexeren und mehrdeutigeren Welt leben. Früher konnten Unternehmensführer nach einer Reorganisation oder strategischen Neuausrichtung den Mitarbeitenden eine gewisse Konsistenz und Sicherheit versprechen. Heute ist es oft sogar unmöglich, nur für einige Monate eine ehrliche Prognose abzugeben. Deshalb herrscht in zahlreichen Unternehmen eine Art Dauerunruhe-Zustand.
Das kann sich bei Mitarbeitenden wie folgt äussern:
- Change-Müdigkeit: Sie zeigt sich unter anderem darin, dass Anpassungsanforderungen mit Lethargie, Fatalismus oder Zynismus kommentiert werden.
- Change-Ignoranz: Manche Mitarbeitende haben gelernt, Neuerungen einfach auszusitzen nach dem Motto: «Wenn ich mich langsam genug bewege, ist diese Welle vorbei, bevor ich etwas ändern muss».
- Aktiver Widerstand: Durch ein Festhalten an Überholtem sowie Endlos-Diskussionen und Stimmungsmache wird mit Zähnen und Klauen versucht, den Status quo zu erhalten.
Selbstverständlich begegnet man in den Unternehmen auch Mitarbeitenden, die sich auf Veränderungen einlassen und versuchen das «New Normal» aktiv zu gestalten. Doch das Gros leidet unter der Dauerunruhe und reagiert zunehmend unwillig auf die vielen Veränderungen.
Der Antwortversuch «Agile Organisation»
Was können Unternehmen dagegen tun? Seit Jahren wird das Thema «agile Organisation» als mögliche Lösung diskutiert – also das Fördern einer Unternehmenskultur, die sich der Veränderungsdynamik bewusst ist und darauf mit einer hohen Anpassungsfähigkeit antwortet. In einem solchen System, so die Hoffnung, organisieren sich die Menschen anders als bisher. Sie entscheiden schneller, tragen Verantwortung und tauschen sich aus.
Doch wer sind die Träger einer solchen Kultur? Die Menschen in der Organisation und ihre Beziehungen zueinander. Also gilt es hier den Veränderungshebel anzusetzen. Das wurde in der Debatte über das Thema «agile Organisation» oft übersehen und der Fokus in den entsprechenden Projekten zu wenig auf den Aspekt Kulturveränderung gelegt. Das wäre aber nötig, weil in einer agilen Organisation, die soweit möglich auf starre Organigramme, Bereichsgrenzen und Aufgabenbeschreibungen verzichtet, die Orientierungsanker andere als in der klassischen Top-down-Organisation sind. Und die Mitarbeitende können sich bei ihrer Arbeit weniger auf Beschlüsse in der Vergangenheit sowie Vorgaben beziehen. Sie müssen «wach» sein und über die Fähigkeit verfügen, einzuschätzen, was gerade passiert – und hierauf sinnvoll reagieren. Statt Beständigkeit ist geistige Flexibilität gefragt. Statt Dienst nach Vorschrift sind Neugier und Selbstbewusstsein gefordert. Statt Stabilität findet Entwicklung statt.
Eine solche Form des Miteinanders hat Auswirkungen auf die Beziehung Unternehmen-Führung-Mitarbeitende. Wir sind im betrieblichen Kontext ein Beziehungsmodell gewohnt, in dem getroffene Vereinbarungen quasi dauerhaft gelten – seien dies Vereinbarungen bezüglich der Arbeitszeit, Entlohnung, Zuständigkeiten, Arbeitsinhalte oder Karrierepfade. Das erwarten viele Mitarbeitende weiterhin. Doch wie soll das funktionieren, wenn sich die Rahmenbedingungen ständig ändern? Müssen wir uns dann nicht stärker auf «agile Deals» zwischen den Unternehmen sowie deren Führungskräften und ihren Mitarbeitenden einstellen? Vermutlich!
Der Beziehungskitt: gemeinsame Werte
Die Unsicherheit aus der Mitarbeiterperspektive wird weiter wachsen. Mitarbeitende werden sich fragen: Worauf kann ich mich noch verlassen? Wem und auf was kann ich noch vertrauen?
Damit wird auch die Frage virulenter: Was hält das soziale System Unternehmen noch zusammen, wenn dieses die zentrale Bedürfnisse seiner Mitglieder (wie die nach Sicherheit und Verlässlichkeit) nur noch bedingt erfüllen kann?
Die Praxis zeugt: Das Einzige, was Menschen und Organisationen in Zeiten extremer Verunsicherung stabilisieren kann, ist ein gemeinsames Wertesystem. Wenn die vielen Einzelnen im System durch bestimmte Werte miteinander verbunden sind, gehen sie gemeinsam durch Dick und Dünn – unter anderem, weil dann die Beziehungspartner berechenbar bleiben, weshalb Vertrauen entstehen kann.
Wenn in Unternehmen die Veränderungsdynamik so gross wird, dass schriftliche Vereinbarungen das Papier nicht mehr wert sind, auf dem sie stehen, dann gewinnen die gemeinsamen Werte an Bedeutung: Sie schweissen zusammen. Und aus dem gemeinsamen Wertekanon erwächst der Zusammenhalt, den Planungen und Strategien nicht mehr schaffen können.
In die Unternehmenskultur eintauchen
Doch wie entsteht in Unternehmen eine solche gemeinsame Wertebasis? Was fördert einen entsprechenden Team-Spirit? Wie wächst das hierfür nötige Vertrauen? Die Antwort lautet: Indem das Unternehmen und die Führungsmannschaft (mit den Mitarbeitenden) die Unternehmenskultur gezielt beeinflusst und prägt. Das ist keine leichte Aufgabe, doch eines der Kernthemen von Führung während Unbeständigkeit.
Kulturentwicklung erfordert eine Art Tiefseetauchen. Denn wenn wir von Unternehmenskultur sprechen, sprechen wir vom kollektiven Gedächtnis einer Organisation – von den Erfahrungen, aber auch Narben, die im Untergrund wirken. Sie fliessen in die Haltung und das Handeln der Menschen ein. Appelle hingegen verpuffen meist wirkungslos; ebenso wie bunte Poster mit Vertrauensslogans. Kulturarbeit erfordert tiefer gehende und wirkende Interventionen, damit sich etwas Neues bilden kann.
Wenn der Change als alltägliche Herausforderung akzeptiert und gelebt werden soll, dann bedeutet das für die Führungskräfte in den Unternehmen vor allem: Schnorchel an und rein in die Tiefen der das (gemeinsame) Verhalten prägenden Werte und Prinzipien. Denn erst wenn statt der Symptome der eigentliche Kern im Fokus der Betrachtung steht, findet eine wahre Veränderung statt.