Talent-Assessments: Einblick in die Beraterpraxis
In Zeiten von radikalen Veränderungen an der Spitze von Unternehmen kann Talentmanagement ein entscheidendes Instrument sein, Gesellschaften erfolgreich in ihren nächsten Lebenszyklus zu führen. Dabei ist es zentral, Management- und Leadership-Potenzial zu identifizieren, zu entwickeln und die Wirksamkeit zu messen.
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Was früher «Management Development» oder «Kaderförderungsprogramm» hiess, ist heute oft Teil eines übergeordneten Talentmanagement-Konzepts. Ein solches Konzept beschreibt idealerweise, wie Führungskräfte ihre Leistungs- und Potenzialträger fördern können. Zudem sollte es aufzeigen, wie das Management durch den HR-Bereich in seiner Führungsaufgabe professionell unterstützt werden kann. Hürden sind dabei – bereits vor der Implementierung einer Talentmanagement-Strategie – zu nehmen: Es ist unerlässlich, dass sich die «oberste Heeresleitung» persönlich und aktiv für den Aufbau, Fortschritt und Erfolg einsetzt. Um die Bedeutung des Talentmanagements im Bewusstsein der Unternehmensleitung zu verankern, sind Nutzeneinschätzung und Wirksamkeitsmessung hilfreiche Instrumente.
Defizite im Talentmanagement-Controlling
Doch wie lässt sich der Erfolg eines Talentmanagement-Konzepts messen? In einer 2011 veröffentlichten explorativen Studie der Universität Zürich (Pamela Bethke-Langenegger: «Talentmanagement in Schweizer Unternehmen») kommt einerseits zum Vorschein, dass nur ein Bruchteil aller Schweizer Unternehmen über spezifische Controllinginstrumente zur Evaluation des Talentmanagements verfügt. Die Nutzeneinschätzungen beruhen in dieser Stichprobe bei vielen Unternehmen auf den individuellen Bewertungen von Personalverantwortlichen. Andererseits geht ein Grossteil der befragten Unternehmen davon aus, dass Talentmanagement einen (entscheidenden) Einfluss auf den Unternehmenserfolg hat.
Dem – vor allem auf die Unternehmensstrategie und die Nachfolgeplanung ausgerichteten – Talentmanagement werden folgende Wertschöpfungsbeiträge zugeschrieben: Unternehmensgewinn (32 %); Unternehmensproduktivität (40,6 %); Unternehmenswert auf dem Kapitalmarkt (52,2 %). Weiter zeigt die Studie, dass sich unabhängig von der Grösse und Branche eines Unternehmens der prozentuale Anteil von 5 bis 10 % der Mitarbeitenden in einem sogenannten Talent-Pool bewegt. Mit diesen internen Potenzialträgern können ca. 40 % der Schlüsselstellen besetzt werden, was wiederum einen positiven Effekt auf die Rekrutierungs- und Einarbeitungskosten hat und Fehlbesetzungsrisiken reduziert. Erfolgskritisch ist dabei, dass mit den Linienverantwortlichen für jeden Potenzialträger konkrete Zielstellen definiert werden.
Die Studie sieht vornehmlich Optimierungsbedarf in den Bereichen zielgruppenspezifisches Anreizsystem, Talent Relationship Management, Kommunikation nach innen und aussen sowie im Controlling. Beispiele aus der Praxis für die Praxis unterstreichen den Handlungsbedarf in den meisten der erwähnten Felder. So wurde beispielsweise in einem grossen global tätigen deutschen Industriekonzern wie auch in einer deutschen Bank, für die ich als Assessment-Berater tätig war, «Talent» jeweils dadurch definiert, dass unabhängig vom Assessment-Ergebnis gewisse Kandidaten im Vorfeld bereits als gesetzt galten. Solche Praktiken sind dem Assessment als Beurteilungsinstrument nicht unbedingt zuträglich und erlauben einen Blick in die (damals) «gelebte», jedoch wenig vorbildliche Personalpolitik.
Bombenwurf-Strategien
Ein optimaler Talentmanagement-Prozess basiert auf einem transparenten und zwischen allen Beteiligten abgestimmten Vorgehen. Wenn das Konzept in enger Zusammenarbeit von Linienvorgesetzten und Personalverantwortlichen entwickelt wird, ist eine tiefe Verankerung in der Organisation sichergestellt. Dies ist jedoch nicht immer einfach zu implementieren. Bevor ich für ein internationales Schweizer Industrieunternehmen in ein Beratungsmandat berufen wurde, hatte es schon drei Mal ohne Erfolg versucht, ein entsprechendes Talentmanagement aufzugleisen. Die Bemühungen verliefen im Sande, weil das Hauptaugenmerk den Instrumenten und nicht dem Talentmanagement-Prozess galt. In den ersten drei missglückten Versuchen investierte das Unternehmen mit einer «Bombenwurf-Strategie» viel Energie in die (theoretische) Konzeptarbeit.
So entstanden u. a. Hochglanzbroschüren mit der Einbettung der Konzern-HR-Policy und ein «Training Guide» mit Führungskursen. Diese konnten von den durch das Gruppen-Assessment-Center-Verfahren ausgewählten Talenten absolviert werden. Ebenso viel Arbeit wurde in die Entwicklung des erwähnten Gruppen-Assessment-Centers und die Ausbildung der internen und externen Beobachter gesteckt. Was in diesem Prozess aber nicht genügend Beachtung fand, war die Abwägung zwischen der Entwicklung und der Selektion der Talente sowie des anschliessenden Prozesses der Nomination im Hinblick auf konkrete Zielstellen. Dank einer klaren Projektorganisation mit Führungsverantwortung der Entscheidungsträger konnte das Gesamtprojekt erfolgreich abgeschlossen werden.
Zweifelhafte Assessment-Tools
Neben dem in der Studie erwähnten kritischen Erfolgsfaktor des Talentmanagement-Controllings zeigt meine Erfahrung, dass im Talentmanagement-Prozess nach wie vor das Identifizieren und Beurteilen von Leistungs- und Potenzialträgern ein zentraler Faktor ist. Noch heute gibt es Praxisbeispiele, die sich an Talentmanagement-Konzepten der Vergangenheit orientieren und unkritisch Assessment-Praktiken der «Assessment-Center-Schule» favorisieren. Obwohl es selbstverständlich anerkannte Standards gibt, zeigen viele Assessment-Center-Formate teilweise zu wenig praxisbezogene «Simulationen». Darüber hinaus fällt es auch professionellen Assessoren schwer, zu unterscheiden: Welches das wahrgenommene, beobachtete Verhalten ist – das «schauspielerisch» beeinflusst werden kann – und welches «meine» Bewertungen oder Interpretationen sind. Es ist schwierig, «objektive» Fakten von Gefühlen zu unterscheiden. Oder aber es werden (immer noch) diejenigen Assessment-Tools eingesetzt, deren Lizenz man eingekauft hat, aber deren wissenschaftliche Seriosität zumindest in Frage gestellt werden kann.
Psychometrische Tests werden heute wie Produkte vertrieben und sind bequem «online» verfügbar. Dieser Markt ist so intransparent geworden, dass es für die Nutzer schwierig ist, die Übersicht zu behalten und nachvollziehen zu können, ob die Tests auch das messen, was sie vorgeben. Einige verwenden psychometrische Verfahren aufgrund ihrer persönlichen Präferenz, weil das Ergebnis dem entspricht, was erwartet wird. Dies ist allerdings nicht zwingend relevant für die zu beurteilenden Kandidaten. Es gibt jedoch valide, innovative Tools auf biometrischer Basis, die objektiver als psychometrische Tests sind. Sie geben unter anderem Auskunft über das Leistungspotenzial und die Resilienz von Mitarbeitenden sowie Führungskräften. Psychometrische Tests haben den Nachteil, dass immer auch ein Teil subjektiver Selbstdarstellung einfliesst – auch wenn dieser Effekt durch einen entsprechenden «Mix der Testbatterie» zum Teil neutralisiert werden kann. Die biometrische Messung wie zum Beispiel mit dem «Brainflow-Tool» (www.brainflow.ch) basieren auf einer 24-Stunden-Messung der Herzraten-Variabilität. Diese liefert aufschlussreiche Fakten zur Wechselwirkung unseres Nervensystems.
Der sogenannte «War for Talents» findet zunehmend auch in unseren Breitengraden statt. Wenn man bestehen will, muss sich jedes Unternehmen etwas einfallen lassen, um die wirklich guten Köpfe mit hoher sozialer, emotionaler Kompetenz und Erfahrung zu rekrutieren. Dies gilt ebenso, um als bevorzugter Arbeitgeber wahrgenommen zu werden. Es ist eine Plattitüde, dass gute Leute weitere gute Leute anziehen. Das wird sich bei abnehmender Loyalität – auf Gegenseitigkeit – noch verschärfen.