Vielfalt statt Einfalt – Talente richtig identifizieren
«Erfolg im War for Talents», «Mitarbeiterbindung» und «Senkung der Rekrutierungskosten». Rechtfertigen diese Argumente die Implementierung eines Talentmanagement-Prozesses? Drei Thesen für eine business- und zukunftsorientierte Identifikation von Talenten als Wertschöpfungsbeitrag.
«Diejenigen zu identifizieren, die ihr volles Potenzial erst später, in anderem Kontext, entwickeln, das ist die Königsdisziplin im Talentmanagement.» (Illustration: iStockphoto)
Ein Kollege erzählte mir vor kurzem folgende Geschichte: «Eine Familienunternehmung aus der Möbelbranche mit mehreren landesweit verteilten Standorten hatte in ihrem Unternehmen ganz klare Ziele und quantifizierbare Kategorien für den Verkauf gesetzt, um wettbewerbsfähig gegenüber wachsender Konkurrenz zu bleiben. Der Geschäftsführung war klar, dass sie eine Anzahl ihrer Mitarbeiter entlassen muss. Als Familienunternehmen mit langer Tradition und hoher Mitarbeiterverbundenheit standen konsequenterweise jüngere Mitarbeitende ohne lange Firmenzugehörigkeit ganz oben auf der Liste. Frau B., eine 31-jährige Innenarchitektin, seit weniger als einem Jahr in der Unternehmung und durch ihre Ausbildung eine der «teureren» Mitarbeitenden, wurde folgerichtig bald darauf gekündigt.
Nach Frau B.s Entlassung stellte man fest, dass die Filiale plötzlich einen signifikanten Umsatzrückgang erlitt. Der Grund dafür war im Nachhinein schnell identifiziert, Frau B. war die Erfolgsfrau im Verkauf von Möbeln im hochpreisigen Segment an grosse Firmenkunden gewesen. Noch schlimmer, im Nachhinein stellte sich heraus, dass sie zudem die Erfolgsfrau für ein potenzielles Projekt in Algerien gewesen wäre, weil sie die französische Sprache perfekt beherrscht.»
Von unerkannten und normierten Talenten
Natürlich fragte ich, ob man das denn nicht im Vorfeld hätte klären und so den Fehler hätte vermeiden können. Wie sich herausstellte, hatte die Unternehmung einige Jahre vorher ein Talentmanagement-Programm eingeführt, und man war der festen Überzeugung, dass dies solche Folgen verhindert. Das eingeführte Talentmanagement berücksichtigte aber nur Führungskräfte und liess keine Rückschlüsse auf den Wertbeitrag des einzelnen Mitarbeitenden in der Wertschöpfungskette zu:
These 1: Erfolgreiches Talentmanagement basiert auf dem Beitrag des Mitarbeitenden in der Wertschöpfungskette, unabhängig von seiner hierarchischen Position.
Ein anderes Beispiel, das die Möglichkeiten und Grenzen eines Talentmanagements aufzeigt: In einem internationalen Technologie-Konzern wurde die Talentmanagement-Methode eines grossen renommierten Beratungshauses eingeführt. Die Methodik basiert, wie andere auch, auf wissenschaftlicher Analyse der Eigenschaften erfolgreicher Manager. Aus der Analyse ergeben sich standardisierte Kriterien zur Beurteilung des Management-Potenzials von Führungskräften.
Weltweit wurden die Landesgesellschaften angewiesen, ihr Management anhand dieser Kriterien zu bewerten und die Ergebnisse zurückzumelden. Was passierte? In jeder Landesgesellschaft wurden die bereits «identifizierten» Talente auf die neuen Kriterien «umnormiert» und an die Zentrale gemeldet. Gleichzeitig entstand im Unternehmens-Blog eine heftige Diskussion über die richtige «Normierung» der Talente. Je nach Kultur und Selbstbewusstsein der Landesgesellschaft war ein unterschiedlicher Prozentsatz zurückgemeldet worden, der dann von den anderen angezweifelt wurde. Dieses Problem löste die Zentrale letztendlich durch die Vorgabe einer Gauss-Verteilung, das heisst Prozentsätzen pro Kategorie einheitlich über die Länder hinweg. Das Resultat des Prozesses? Die Ergebnisse wurden zur Kenntnis genommen und verschwanden in der Schublade. Die Annahme, Talente durch Kategorisierung von Eigenschaften objektiv messen zu können, führte letztendlich zum Scheitern des Projektes.
Die Frage, ob einheitliche Messkriterien, und so die Definition des «normierten Idealmitarbeiters», wünschenswert sind, möge jeder für sich entscheiden.
In der «Pinguin-Falle»
Folglich hiesse dies, es gibt auch eine Norm für die «erfolgreiche Unternehmung» und sowohl Menschen wie auch Unternehmungen, die dieser Norm entsprechen, können niemals scheitern. Verfolgt man die Entwicklung von Ratings, die «Manager des Jahres» beziehungsweise «Unternehmen des Jahres» bewerten, zeigen sich grosse Schwankungen. Der Erfolg scheint also sehr stark von den jeweiligen Gegebenheiten geprägt zu werden und keineswegs für die Zukunft vorprogrammiert zu sein.
Generalisierte Kriterien, die auf Basis der Analyse von «Erfolg» definiert werden, bergen die grosse Gefahr, ein Epiphänomen zu beschreiben. Sie beschreiben oft tatsächlich Konsequenzen des Erfolgs und nicht deren Ursache. Sie sind dann bestenfalls selbsterfüllende Prophezeiungen. Tatsächlich generiert sich Erfolg aus dem, was man gegenüber den anderen Marktteilnehmern anders macht, dies gilt gleichermassen für Unternehmungen wie Menschen.
These 2: Wertsteigerung entsteht durch die Betonung der Differenzierungsfaktoren, nicht durch Normierung auf den «Markt».
Dies führt zum schwierigsten Teil des Talentmanagements. Mein Kollege Marc-Stefan Brodbeck von der Deutschen Telekom formulierte es anlässlich einer Fachtagung 2012 treffend: «Pinguine rekrutieren Pinguine.» Was bedeutet diese «Pinguin-Falle» konkret? Es werden konkret diejenigen Leute befördert und gefördert, die dem Chef den grössten Nutzen bringen, die geringste Arbeit machen und am besten in die Kultur passen. «Man versteht sich» und kann sich aufeinander verlassen. Oftmals wird dieser Effekt als «Seilschaft» abgewertet. Tatsächlich sorgt die Seilschaft für Stabilität und Effizienz in der Unternehmung – jedenfalls solange die Entwicklung linear verläuft. Tritt aber eine neue Situation auf, ist logischerweise auch die ganze «Seilschaft» aufgrund ihrer Homogenität überfordert.
Eine (Manager-)Persönlichkeit ist meist in einer ganz bestimmten Unternehmenssituation besonders erfolgreich und fühlt sich darin wohl, eine Voraussetzung für Spitzenleistung.
Das heisst, eine Unternehmung braucht in einer Restrukturierungsphase andere Persönlichkeiten und Talente als bei einer internationalen Expansion oder bei einer Veränderung des Konsumentenverhaltens und des Marktes.
Die Königsdisziplin
Hier setzt die Königsdisziplin im Talentmanagement ein, nämlich diejenigen zu identifizieren, die ihr volles Potenzial erst zu einem späteren Zeitpunkt, in einem anderen Kontext, entwickeln. Das erfordert einen offenen Dialog, kritische Auseinandersetzung mit der aktuellen Situation, Selbstreflexion und einen, zumindest virtuellen, Aussenblick, um überhaupt unterschiedliche Szenarien zu identifizieren und deren Erfolgskriterien zu erkennen. Hierfür ist HR als «neutrale» Stelle in der Führungsrolle und muss, um das volle Potenzial zu entwickeln, die Komfortzone als weisungsgebundener interner Dienstleister definitiv verlassen.
These 3: Ein erfolgreiches Talentmanagement fördert und fordert den Unterschied und generiert einen Talent-Pool, der Nichtlinearitäten in der Entwicklung berücksichtigt.
Dies ist sicher nicht in jeder Unternehmung und jeder Konstellation in einem Regelprozess möglich. Es verbietet HR aber niemand, für sich selber diese Szenarien zu skizzieren und schon frühzeitig interne und externe Kandidaten für diese Situation zu identifizieren. Tritt dann das neue Szenario ein, ist das HR zumindest vorbereitet und kann entsprechende Kandidaten präsentieren. Auf diese Weise schafft das Talentmanagement nachhaltige Unternehmenswerte und bietet den Mitarbeitenden interessante Perspektiven.