Umverteilung in der beruflichen Vorsorge: Was passiert, wenn nichts passiert?
Hedwig Ulmer ist Mitglied der Geschäftsleitung von Helvetia Schweiz. Seit dem 1. September 2020 leitet die ETH-Mathematikerin den Marktbereich Vorsorge Schweiz. Was die Folgen des zu hohen BVG-Umwandlungssatzes und des Mindestzinssatzes sind, erläutert sie im Interview.
Illustration: Jonas Raeber.
In der beruflichen Vorsorge wird von «Quersubventionierung» oder «Umverteilung» gesprochen. Was ist damit gemeint?
Hedwig Ulmer: Die Berufstätigen sparen zusammen mit den Arbeitgebenden für die Altersvorsorge. Dieses von der Pensionskasse verwaltete Kapital wächst auch durch Zinserträge. Bei einer Umverteilung werden diese Erträge jedoch nicht vollständig den Sparern gutgeschrieben, da Teile davon für die Finanzierung von neuen und bestehenden Altersrenten benötigt werden. Das Alterskapital der Sparer wächst während der Erwerbszeit somit weniger stark und die künftigen Renten fallen tiefer aus.
Warum schreibt man nicht alle Erträge dem Kapital der Berufstätigen zu?
Die Pensionskasse verwaltet das Kapital der Berufstätigen und der Rentner. Beide Gruppen sollen am Anlageerfolg teilhaben. Bei Rentnern muss das benötigte Kapital bei Rentenbeginn aufgrund der Lebenserwartung und einer erwarteten Verzinsung berechnet werden. Beide Annahmen sind aus heutiger Sicht zu optimistisch, weil die Lebenserwartung seit Einführung des BVG 1985 um ein Drittel gestiegen* ist und das Kapital immer weniger Ertrag abwirft. Die sich verändernde Situation wird beim gesetzlich vorgeschriebenen BVG-Umwandlungssatz jedoch nur marginal berücksichtigt. Zudem ist der Mindestzins zu hoch. Infolgedessen werden zu hohe Altersrenten ausbezahlt. Bereits laufende Renten gelten als «erworbenes Recht» und dürfen nicht mehr angepasst werden. Das Manko muss also aus dem Ertrag der Vorsorgegelder der Berufstätigen finanziert werden.
Wie viel Geld wird auf diese Weise umverteilt?
Die systemfremde Umverteilung bewegt sich jährlich in Milliardenhöhe. 2019 waren es 7,2 Milliarden Franken. (1)
Wie gehen die Vorsorgeanbieter damit um und wo liegt deren Verantwortung?
Zinsen und Umwandlungssätze können von den Anbietern gesenkt, die regulatorischen Vorgaben zum BVG müssen aber eingehalten werden. Senkungsmassnahmen treffen immer die aktuell Erwerbstätigen. Vor allem jene, die seit Jahren die Quersubventionierung mitfinanzieren und nun mit einem tieferen Alterskapital und tieferen Umwandlungssatz vor der Pensionierung stehen. Jüngere Arbeitnehmer, die einen tieferen Umwandlungssatz haben und deren angespartes Altersguthaben tiefer verzinst wird, erreichen nie das ursprünglich vorgesehene Rentenniveau. Aus Sicht der Vorsorgeeinrichtungen sind aufgrund der Umverteilung vor allem Unternehmen mit jungen Versicherten attraktiv, die nicht unmittelbar vor der Pensionierung stehen. Dadurch reduziert sich auf Ebene der Pensionskasse das Problem der Umverteilung automatisch. Diese Versicherten wünschen sich wiederum hohe Zinserträge und Umwandlungssätze.
Für Vollversicherungen ist das eine Herausforderung: Im Gegensatz zu teilautonomen Anbietern offerieren sie umfassende Garantien, beispielsweise bezüglich Schwankungen auf den Anlagemärkten. Diese Garantien sind jedoch mit Kosten verbunden und lassen sich angesichts der realitätsfremden Rahmenbedingungen je länger je weniger aufrechterhalten. Daher sind in den letzten Jahren viele Anbieter aus dem Vollversicherungsgeschäft ausgestiegen, wie der Bericht zur finanziellen Lage der Vorsorgeeinrichtungen 2019 der OAK BV (2) eindrücklich zeigt. Trotzdem gibt es in der Schweiz viele KMU, die 100 Prozent Sicherheit wollen. Helvetia bietet deshalb alle Vorsorgemodelle an.
Wie löst man das Umverteilungsproblem?
Das Gesetz schreibt Mindestleistungen im BVG vor. Dazu gehören der BVG-Umwandlungssatz und die Festlegung des Mindestzinssatzes durch den Bundesrat. Es ist unbestritten, dass diese Parameter viel zu hoch sind. Sie müssen an die Realität angepasst werden. Die Korrektur des Mindestumwandlungssatzes ist aber nur über eine BVG-Reform möglich. Hier ist die Politik gefordert, eine mehrheitsfähige Reformvorlage zu erarbeiten. Beim Mindestzinssatz hätte es der Bundesrat in der Hand, der aktuellen Situation Rechnung zu tragen.
Ihr persönliches Fazit?
Wir haben begrenzt Zeit, Geld in der beruflichen Vorsorge zu sparen, und erhalten dafür immer weniger Zins. Dieses Geld muss zusammen mit AHV und übrigem Vermögen bis ans Lebensende reichen. Ein längeres Leben mit weniger Geld bedeutet «Verzicht». Deshalb sind Reformen der Altersvorsorge politisch jeweils sehr umstritten. Vorsorge ist aber wichtig, wir müssen ihr als Ganzes mehr Beachtung schenken, sie begleitet uns ein Leben lang und sichert unseren Wohlstand. Es ist also nie zu früh, sich mit der eigenen Vorsorge auseinanderzusetzen und selbst vorzusorgen. Angebote für jedes Budget sind vorhanden.
Quelle: Oberaufsichtskommission Berufliche Vorsorge OAK BV, Bericht finanzielle Lage der Vorsorgeeinrichtungen 2019.
(1) Abb. 20, Seite 30
(2) Abb. 6, Seite 14
* Quelle: Bundesamt für Statistik, Lebenserwartung, 1981–2019.