Im Gespräch mit Judith Bellaiche

«Unsere Aufgabe ist es nicht, den Strukturwandel zu verhindern, sondern ihn zu begleiten»

Während die einen Geschäftsmodelle auf ChatGPT und Co. aufbauen, fürchten andere die Macht der Algorithmen und rufen nach staatlicher Regulierung. Judith Bellaiche, GLP-Nationalrätin und CEO des Wirtschaftsverbands der Schweizer Digitalisierer Swico, erklärt, warum es ihrer Meinung nach mehr Besonnenheit braucht und warum sie den Regulierungsvorschlag der EU für untauglich hält.

Sprechen wir über die Chancen von künstlicher Intelligenz: Finden Sie, dass Firmen mehr KI im HR einsetzen sollten?

Judith Bellaiche: Künstliche Intelligenz einzusetzen, ist kein Selbstzweck, sondern entspringt immer einem Bedürfnis. Insofern muss das jede Firma für sich entscheiden. Allerdings gehörte das HR tatsächlich zu den Ersten, die KI gezielt in der Rekrutierung eingesetzt haben. Gerade bei grossen Unternehmen, die monatlich Hunderttausende von Bewerbungen erhalten und diese Mengen nicht mit menschlicher Arbeit bewältigen können, ist der Einsatz von KI sinnvoll. Nun haben viele Angst, dass ein Entscheid schlechter ausfällt, wenn er von einem Algorithmus getroffen wird. Doch ein Algorithmus arbeitet zuverlässiger und schwankt weniger als ein Mensch. Wenn sie mit sorgfältig ausgewählten Daten trainiert wurde, kann eine KI sogar für mehr Gerechtigkeit sorgen. Man muss sich jedoch gut überlegen, ob der finale Entscheid nicht dem Menschen vorbehalten bleiben sollte.

Sehen Sie weitere Einsatzfelder für künstliche Intelligenz als nur in der Rekrutierung?

KI ist allgemein im Arbeitsalltag nützlich. Als Beispiel: Man kann heute in einer Ablage mittels Suchfunktion nach Dokumenten suchen. Wenn nun aber die KI gleich noch eine fertige Präsentation aus den Informationen erstellen könnte, müsste sich der Mensch nicht mehr mit Powerpoint-Slides abmühen. Viel Potenzial für Denk- und Kreativarbeit würde frei.

Judith Bellaiche

Judith Bellaiche ist CEO von Swico, dem Wirtschaftsverband der ICT- und Online-Branche, der die Inte­ressen etablierter Unternehmen und Start-ups in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft vertritt. 2019 wurde sie für die Grünliberale Partei (GLP) in den Nationalrat gewählt, wo sie Mitglied der Rechtskommission ist. Mit dem «Swico Digital Ethics Circle» setzt sich Judith Bellaiche für eine ethische Digitalisierung in der Schweiz ein. swico.ch

 

Auf der anderen Seite könnte KI genau den Leuten die Arbeit wegnehmen, deren Hauptjob solche Präsentationen sind –  Assistentinnen und Assistenten etwa.

Ja, es wird einen Strukturwandel geben. Das darf man weder schönreden noch ignorieren. Doch das ist bei jeder neuen Technologie so. Dadurch werden mitunter bessere Jobs geschaffen. Früher hatten wir etwa Liftboys, die den ganzen Tag einen Liftknopf drücken mussten. Oder Tausende von Frauen in Telefonzentralen, die Stecker umsteckten und Leitungen verbanden. Diese Art von Arbeit wollen wir nicht zurück. Jobs werden verschwinden, ja. Unsere Aufgabe ist es nicht, den Strukturwandel zu verhindern, sondern ihn zu begleiten und den Menschen zu helfen, sich umzuorientieren und weiterzubilden. Lebenslanges Lernen muss in der Wirtschaft immer das Gebot der Stunde sein.

Wer ist denn in der Pflicht, diesen Wandel zu begleiten?

Die Unternehmen? Oder spielt nicht auch der Staat eine Rolle … … Sie haben den dritten wichtigen Player vergessen: die Arbeitnehmenden selbst. Grundsätzlich ist jede und jeder für sich verantwortlich, das gilt für die Karriere genauso wie für die Gesundheit oder die Familie. Interessanterweise haben die Menschen eine grosse Adaptionsbereitschaft, wenn es um andere Dinge geht – etwa bei neuen Sportarten, Ernährungsgewohnheiten oder Mobilitätslösungen. Diese Änderungsbereitschaft kann man den Leuten auch im Erwerbsleben zumuten, finde ich. Aber natürlich sind auch die Unternehmen gefordert, zumal sie besser in der Lage sind, zu beurteilen, wie sich die Jobprofile verändern werden. Es braucht auch eine gewisse Grosszügigkeit bei der Weiterbildung. Der Staat hingegen kann kaum etwas ausrichten im Berufsleben. Auch bei der Bildung hinken wir mindestens zehn Jahre hinterher. Wir setzen jetzt erst allmählich den Lehrplan 21 um, der vor Jahren angestossen wurde und jetzt, im Zeitalter von ChatGPT, bereits überholt ist. Ich finde das ungenügend.

Aber muss nicht auch staatliche Regulierung her, um Arbeitslosigkeit zu verhindern?

Der sicherste Weg zur Ausbreitung von Arbeitslosigkeit ist Strukturerhalt. Wenn wir veraltete Strukturen erhalten, statt den Wandel zu begleiten, wird die Schweiz zurückfallen. Genau dann gehen Jobs verloren.

Die EU hat einen Vorschlag zur Regulierung von KI erarbeitet. Sollte sich die Schweiz dem nicht anschliessen?

Die EU will KI technologiespezifisch regulieren (die EU klassifiziert KI in Risikokategorien, Anm. d. Red.). Das entspricht nicht unserem Rechtsverständnis, denn bei uns werden Rechtsgüter geschützt. Ein Beispiel: Ein Messer ist völlig harmlos, wenn man damit ein Butterbrot streicht. Es wird aber gefährlich, wenn man es gegen einen Menschen verwendet. Trotzdem haben wir kein Messergesetz. Hingegen haben wir Gesetze, um das Leben von Menschen zu schützen, sei es im Strafrecht oder in der Schadenshaftpflicht. Dann spielt es auch keine Rolle, ob jemand mit einem Messer, einem Gewehr oder durch eine KI verletzt wurde. Aus meiner Sicht ist die KI-Regulierung der EU untauglich.

Wie kann man es besser machen?

Statt risikobasiert kann man outcome-basiert regulieren. Nehmen wir den Fall eines autonomen Fahrzeugs: Auf der Strasse entsteht eine Konfliktsituation, der Algorithmus entscheidet und ein Mensch wird verletzt. Hier muss man sicherstellen, dass tatsächlich jemand haftbar ist. Es darf nicht sein, dass die Hersteller ihre Verantwortung auf das autonome Fahrzeug abwälzen. Wir müssen also dafür sorgen, dass die Verantwortungskette regulatorisch erfasst wird.

Was bedeutet das fürs HR, zum Beispiel, wenn eine KI-Anwendung Bewerberinnen und Bewerber systematisch diskriminiert?

Die erste Frage wäre: Gibt es einen Nachweis für die systematische Diskriminierung? Wenn ja, dann braucht es eine Korrekturmöglichkeit. Man muss verlangen können, dass dieser Missstand beseitigt wird, entweder durch das Unternehmen, das rekrutiert, oder durch den Entwickler der KI-Anwendung. Sollte tatsächlich jemand zu Schaden kommen, muss jemand dafür geradestehen. In diesem Kontext müssen wir KI als Chance betrachten, denn die Algorithmen bringen diese menschliche Diskriminierung überhaupt erst ans Tageslicht. In der Regel ist sie auf die Datenbasis und nicht auf den Algorithmus zurückzuführen.

Wie können sich Unternehmen vor unerwünschten rechtlichen Konsequenzen schützen, zumal wir uns mit KI diesbezüglich auf Neuland bewegen?

Mit Transparenz. Wenn eine Firma die Datengrundlage für eine KI-Anwendung offenlegt und zeigen kann, mit welchen Daten der Algorithmus trainiert wurde, schafft sie eine Möglichkeit, falsche Resultate abzuwenden. Nur weiss man heutzutage oft nicht, wo die Daten herkommen; sie werden von Datenanbietern mehrfach verändert oder weiterverkauft. Aber aus meiner Sicht wird es die Traceability sein, also die Nachvollziehbarkeit einer Datenabstammungskette, die in der Zuordnung von Verantwortlichkeit entscheidend sein wird. Zudem sollten Unternehmen, die eine KI-Applikation beschaffen, beim Entwickler genau spezifizieren, wofür sie diese brauchen, damit die Algorithmen genau für diesen Zweck angepasst werden können. Das Unternehmen muss dann der Versuchung widerstehen, die Applikation für Dinge zu brauchen, für die sie nicht gedacht ist. Denn auch eine unsachgemässe Anwendung kann zu Haftung führen. Umgekehrt sollten die Entwickler von KI-Anwendungen die Perspektive der Endnutzerinnen und Endnutzer jeweils mitdenken. Wir haben noch keine Rechtsprechung in Bezug auf KI und es wird an den Richterinnen und Richtern sein, zu sagen, ob eine Anwendung unsachgemäss war oder nicht. Möglicherweise wird es hier eine Regulierung brauchen, um die Grenze zwischen der Anwender- und der Herstellerhaftung zu ziehen. Allerdings ist das nichts Technologiespezifisches – das ist bei jedem Produkt so.

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Jelena Martinelli hat als Abteilungsleiterin für SwissRe und Swisscom gearbeitet. Heute ist sie selbstständige Texterin, freie Journalistin und Autorin, und berät KMU zu Kommunikationsfragen. www.martinellitext.com

Jelena Martinelli hat als Abteilungsleiterin für SwissRe und Swisscom gearbeitet. Heute ist sie selbstständige Texterin, freie Journalistin und Autorin, und berät KMU zu Kommunikationsfragen. www.martinellitext.com

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