HR Today Nr. 4/2022: International HRM / Mobility

Unterschätzte Personalrisiken

Bei einem Merger and Acquisition (M&A) gerät das Menschliche rasch aus dem Blickwinkel. Das ist fatal, denn für erfolgreiche Firmenzusammenschlüsse ist qualifiziertes Fachpersonal unerlässlich. Worauf es ankommt.

Fehlende Change-Management-Erfahrung, eine schlecht abge­wic­kelte Firmen­integration, eine unklare interne Kommunikation oder die Unfähigkeit kulturelle Unterschiede zweier Firmen zu erkennen und zu berücksichtigen: Die Liste der Führungsschwächen bei Firmenzusammenschlüssen (Merger and Acquisition, M&A) ist lang. Bislang wurden personelle Risiken im Verkaufsprozess jedoch nur unzulänglich erfasst. Das kommt Firmenkäufer zunehmend teuer zu stehen, da die Kosten für M&A steigen. Gemäss der Mercer-Studie «People Risks in M&A» betrug der weltweite Wert aller Firmenverkäufe 2015 rund 4 Billionen US Dollar. Allein zwischen 2017 bis 2018 stieg dieser um 6,6 Prozent. Zudem erwarten rund 57 Prozent der von Mercer befragten Firmenkäuferinnen und -käufer in den nächsten Jahren weltweit mehr Firmenübernahmen. Immer häufiger kommt es dabei zu «Aquihires», dem Kauf von Firmen um der Talente ­willen, sagt Joachim Stephan, Chef von Boston Consulting Schweiz. «Besonders in der IT, im digitalen Bereich und im Sales.»

Gedrängter Zeitplan

Gemäss der Mercer-Studie nehmen die Risiken zu, personelle Schwachstellen zu übersehen, weil M&A in immer kürzeren Zeiträumen erfolgen. So beklagten sich 41 Prozent der 323 befragten Firmenkäufer über mangelnde Zeit bei der ­Firmenprüfung (Due Diligence). «Der zeitliche Druck steigt», bestätigt Joachim Stephan. «Meist werden Firmenverkäufe in vier bis sechs kleineren Deals in ein bis zwei Wochen abge­wickelt.» Thomas Bouchez, Partner und M&A Organisation Transformation Leader Europe von Mercer, sieht das anders: «Je nach Komplexität dauert der Verkaufsprozess sechs Monate bis zu mehreren Jahren.» Das hänge mit den recht­lichen Rahmenbedingungen und der Anzahl beteiligter Länder zusammen. «Verzögerungen entstehen auch während der Umsetzung. Etwa, weil unterschätzte Risiken oder Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Organisationseinheiten ans Licht kommen.» Für Daniel Abatemarco, Leiter Human Resources von der Debrunner Koenig Gruppe, zieht sich vor allem die Post­merger-Phase in die Länge: «Diese dauert 12 bis 36 Monate. Bei einer verfehlten Firmenintegration auch mehrere Jahre.»

Daneben klagen in der Mercer-Studie viele Käufer über einen Informationsmangel während der Due Diligence. Ein Problem, das sich künftig noch verschärfen wird, meint Bouchez. Da es mehr Käuferinnen und Käufer als zum Verkauf stehende Unternehmen gäbe, befeuere das den Wettbewerb um Übernahmekandidaten: «Verkäufer sind am längeren Hebel und geben aus Konkurrenzgründen weniger Informationen preis.» Dadurch steige das Risiko für übernehmende Unternehmen, personelle Risiken nicht oder zu spät zu erkennen. Das ist rund 31 Prozent der von Mercer Befragten durchaus bewusst: Sie planen künftig mehr Zeit ein, um HR-Risiken zu evaluieren. Personelle Risiken resultieren gemäss Mercer-Studie bei M&A vor allem aus der Lücke zwischen der jeweiligen personellen Firmenausrichtung und der neuen Unternehmensstrategie. Hinzu kämen Führungsschwächen, fehlende Nachwuchskräfte und Kompetenzen, eine wenig diverse Belegschaft, ein hohes Fluktuationsrisiko von Schlüssel-Fachkräften oder stark unterschiedliche Unternehmenskulturen. Auf finanzieller Ebene zudem Pensionskassenverpflichtungen oder stark voneinander abweichende Compensation-and-Benefits-Programme.

Due Diligence des HR

Sich der personellen Risiken bewusst zu sein, ist das eine, doch wie erkennt man sie während einer Due Diligence? «Grundsätzlich sollten ­Käuferinnen und Käufer das Kompetenzprofil eines Unternehmens prüfen», sagt Joachim ­Stephan von Boston Consulting. «Sind diese wenig zukunftssicher und besitzt das Unternehmen nicht die richtigen Kompetenzen, sind Wachstumschancen und Geschäftsentwicklung eingeschränkt.» Ähnlich verhalte es sich mit einer eher älteren Belegschaft. «Durch Renten­abgänge geht viel Know-how verloren. Deshalb poche ich bei meinen Kunden auf ­frühzeitige Personalanalysen und darauf, Talente wie die an der Übernahme beteiligten Mitarbeitenden schon ­während der Due Diligence zu sichten.» Dafür nutzt Thomas Bouchez von Mercer klassische und digitale Methoden sowie ­AI-basierte Verfahren. Um einen ersten Einblick in das Kompetenzprofil eines Unternehmens zu gewinnen, dienen ihm vor allem stichprobenartige Analysen von Linkedin-Profilen. «Dadurch kann man gezielt nachfragen und weitere Informationen einfordern. Das eigentliche Skill-Assessment erfolgt aber meist nach Kaufabschluss.»

Trotz vorgängiger Analysen schlagen sich viele Firmenkäufer nach der Übernahme mit HR-Problemen herum. Das liege vor allem daran, dass Personalrisiken während des Due Diligence Prozesses unzureichend erfasst wurden, sagen Abatemarco, Bouchez und Stephan. Das ist auch der Mercer-Studie zu entnehmen: Gerade einmal 44 Prozent ermitteln diese. Dass sich viele HR-Themen erst im Nachgang zeigen, hat für Bouchez weitere Gründe: «Viele Käuferinnen und Käufer werden von Personalthemen überrascht, weil sie HR in der Planungsphase nicht einbeziehen. Zudem stehen nach einer Übernahme die kulturelle Integration, die Synergiegewinnung sowie die Mitarbeitenden-Retention zuoberst auf der Management-Agenda.» 

Schlüsselpersonen ermitteln

Zu den wichtigsten Punkten der Management-Agenda nach der Firmenakquise steht auch das Halten von Schlüsselpersönlichkeiten. Doch wie erkennt man diese? «Meist sind es Führungskräfte, Wissensträgerinnen, Meinungsführer, High Potentials und Profile von Mitarbeitenden, die auf dem Markt schwer zu finden sind», sagt Thomas Bouchez. Viele lassen sich schon aus dem Organigramm ermitteln, ergänzt Daniel Abatemarco. Um den Abgang dieser strategisch wichtigen Mitarbeitenden zu verhindern, sollte ihnen das Management nach dem Firmenkauf baldmöglichst berufliche Perspektiven aufzeigen, rät Joachim Stephan. Wichtig seien zudem Wertschätzung und Anerkennung, ergänzen Bouchez und ­Abatemarco. Daneben beinhaltet eine ­Retentionstrategie auch materielle Anreize wie Boni, Gehaltserhöhungen oder Beförderungen.

Trotz identifizierter Schlüsselpersonen und ­Retentionprogrammen ist es schwierig, die Fluktuationsrate realistisch einzuschätzen: «Dafür bietet sich ein Vergleich mit der Branchenfluktuation», sagt Thomas Bouchez von Mercer. «Bei Finanz- und Beratungshäusern ist sie eher höher und nach Zusammenschlüssen zu erwarten. In der fertigenden Industrie, in der Mitarbeitende sich über Jahre hinweg Spezialwissen aneignen, ist sie dagegen auch nach einem Firmen­zusammenschluss eher gering.» Ebenso gäben historische Zahlen Aufschluss. «Haben Mitarbeitende im Unternehmen bereits einen Zusammenschluss erlebt und wie hoch war die Abgangsrate damals?» 

Wer bleibt, wer geht?

Finden zwei Firmen zusammen, sind viele Stellen doppelt besetzt. So auch Führungspositionen. Doch wer muss gehen? «Das hängt von der Integrationsstrategie ab», sagt Abatemarco. «Sind beide Kandidaten für eine Führungsposition qualifiziert, wird häufig in einem Assessment evaluiert, wer besser auf die Stelle passt.» Dabei sei Vorsicht angebracht, warnt Stephan: «Wird der Kontext nicht richtig vermittelt, führt bereits die Ankündigung einer Führungskraftbewertung dazu, dass die Führungskraft das Unternehmen verlässt.» Ob eine Vorgesetzte oder ein Vorgesetzter bleiben kann oder gehen muss, ist gemäss Bouchez zudem von der künftigen Firmenkultur abhängig: «Führungskräfte leben Verhaltensweisen vor und prägen die Unternehmenskultur.» Mit Trainings können sie auf ihre künftige Rolle zwar vorbereitet werden, doch nicht alle wollen mitmachen: «Manche erreicht man nicht. Firmen müssen sich deshalb von jenen trennen, die eine Veränderung blockieren oder ablehnen.» 

Nicht nur Führungskräfte, auch Mitarbeitende können sich nach einem Firmenzusammenschluss mit abrupten Unternehmensstrategiewechseln schwertun. «Deshalb ist die interne Kommunikation ein Erfolgsfaktor», sagt Bouchez: «Der konstante Austausch zwischen der neuen Unternehmensleitung und den Mitarbeitenden ist dann enorm wichtig. Vorgesetzte müssen Fragen und Sorgen der Belegschaft ernst nehmen.» Gleichzeitig sollten Führungskräfte laufend über die neue Unternehmens­strategie informieren, um Klatsch und Tratsch zu vermeiden. «Werden Wissenslücken mit Annahmen und Gerüchten gefüllt, entsteht Unsicherheit.» Das wiederum beeinträchtige die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens.

Glossar

Merger & Acquisition
Ist ein Sammelbegriff für Transaktionen, bei denen sich Unternehmen oder Gesellschaften zusammenschliessen oder eine Organisation gekauft und in eine andere integriert wird.

​​Due Diligence
Bei der Due Diligence wird ein Unternehmen sorgfältig auf wirtschaftliche, rechtliche, steuerliche und finanzielle Verhältnisse durch einen potenziellen Käufer überprüft. Diese wird von Fachleuten des Käuferunternehmens und externen Beratern durchgeführt, wobei verschiedene Unternehmensdaten analysiert und Gespräche mit dem Management geführt werden.

Aquihiring
Umschreibt den Prozess, ein Unternehmen zu kaufen, um dessen Mitarbeitende zu rekrutieren.

 

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Chefredaktorin, HR Today. cp@hrtoday.ch

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