Wenn es richtig wehtut
Manche Ereignisse werfen uns aus der Bahn. Auch im beruflichen Umfeld sind wir davor nicht gefeit. Wie Unternehmen ihre Mitarbeitenden in belastenden Situationen unterstützen können.
Psychischer Schmerz: Umgang mit Belastungen. (Bild: iStock)
Ein Velofahrer fährt neben einem Lastwagen, wird vom Fahrer beim Rechtsabbiegen übersehen und überrollt. Er ist auf der Stelle tot. Sein Anblick ist für die heraneilenden Rettungskräfte und Polizisten nur schwer zu ertragen. Eine Situation von vielen, denen sie täglich begegnen. «Polizisten erleben während ihrer Dienstzeit viele schwer zu verarbeitende Vorfälle: von Gewaltverbrechen über Unfälle bis hin zu Suiziden», sagt Heinz Dinkelacker, Chef Psychologie und Organisationsberatung bei der Stadtpolizei Zürich. Er betreut mit seinem sechsköpfigen Team die Betroffenen vor Ort und danach, um Stress- und Belastungsstörungen oder posttraumatischen Reaktionen entgegenzuwirken.
Das Psychologenteam spreche nach einem prekären Vorfall die betroffenen Polizisten bereits am Unfall- oder Tatort an, melde sich per E-Mail oder Telefon oder vereinbare ein Gespräch. «Meist reden Mitarbeitende im Betrieb nur zögerlich über stark belastende Aspekte eines solches Ereignisses. Sie suchen erst dann Unterstützung, wenn die Belastung ein hohes Niveau erreicht oder die Stresssymptome nicht mehr abklingen», sagt Dinkelacker. Oft komme deshalb das erste Hilfsangebot von seinem Team. Ab und zu melden sich auch Vorgesetzte und bitten um Unterstützung, weil sich das Verhalten eines Unterstellten am Arbeitsplatz verändert hat.
«Beschäftigte bei der Sanität und Feuerwehr wissen nicht, was sie am Schadenplatz erwartet», sagt Markus Marthaler, Leiter Personal- und Organisationsentwicklung Schutz und Rettung Stadt Zürich. Um sie auf schlimme Ereignisse vorzubereiten, bespricht Marthaler solche Fälle proaktiv mit ihnen. «So abgedroschen es klingen mag: Dadurch vermeide ich Eskalationen.» Spüren Mitarbeitende diese Offenheit und Transparenz, thematisieren sie ihre Befürchtungen eher vor einem kritischen Ereignis.
Auch die Stadtpolizei setzt bei der Bewältigung von kritischen Situationen auf Prävention. «Wir schulen unsere Beschäftigten im Umgang mit Stress und Belastungen. Ausserdem zeigen wir ihnen auf, was bei Hochrisikoeinsätzen passieren kann und wohin sie sich wenden können, wenn ihnen etwas widerfährt», sagt Heinz Dinkelacker. Abseits dieser allgemeinen Präventionsmassnahmen kümmert sich das Psychologenteam jedoch besonders um Spezialisten. Beispielsweise um Mitglieder des Kriminalpolizei-Teams, die sich mit Gewaltdarstellungen im Internet beschäftigen und diese klassifizieren. Das sei langfristig nur schwer zu ertragen. «Deshalb sind wir dort auf Wunsch präsent, erkundigen uns nach ihrem Befinden und fragen, ob wir sie unterstützen können.»
Mit Beschimpfungen umgehen
Nicht nur Feuerwehrleute, Rettungsmitarbeitende oder Stadtpolizisten sind mit belastenden Situationen konfrontiert. Auch Bestattungsmitarbeitende sind diesen ausgesetzt. Weniger wegen der Toten als der Hinterbliebenen. «Manchmal werden wir von trauernden Angehörigen beschimpft, die aus der Fassung geraten sind», sagt Adrian Hauser, Bestatter und Vorstandsmitglied beim Schweizerischen Verband der Bestattungsdienste. «Oder die Kinder eines verstorbenen Familienvaters geben uns das Gefühl, wir hätten ihnen den Vater genommen.» Um solche Erfahrungen mit seinen Mitarbeitenden zu verarbeiten, setzt auch Hauser auf Kommunikation. «Häufig hilft schon ein Gespräch über das Erlebte, um es zu verarbeiten.» Reicht das nicht aus, nimmt Hauser einen Betroffenen ein paar Tage aus dem operativen Geschäft und lässt ihn Büro- oder Lagerarbeiten verrichten.
Dass häufig Chefs reagieren müssen, weil Mitarbeitende keine Hilfe suchen, haben Heinz Dinkelacker und Markus Marthaler schon häufig erlebt. Ein Eingreifen sei besonders dann angezeigt, wenn sich das Verhalten eines Mitarbeitenden stark verändere. «Die Indikatoren oder Anhaltspunkte sind bei jeder Person sehr individuell und stark abweichend», sagt Marthaler. «Gemeinsam ist ihnen aber eine schleichende Verhaltensänderung.» Werde ein Mitarbeitender aggressiv, ziehe sich ein anderer immer mehr zurück. «Ebenso solche Warnzeichen sind eine ständige Gereiztheit, ein mimosenhaftes Verhalten, ein übertriebener Zynismus oder ein andauerndes Sich-über-das-Umfeld-Beschweren.»
Die Gründe, weshalb Mitarbeitende negative zwischenmenschliche Erfahrungen im Berufsalltag für sich behalten? Gemäss Marthaler fällt es vielen Arbeitnehmenden schwer, ihrem Gegenüber in konstruktiver Weise über die sie belastenden Dinge zu berichten. Sich zu öffnen, sei immer mit der Angst verbunden, verletzlich und schwach zu wirken. Das widerstrebe Menschen. «Wir wollen ja immer alles im Griff haben.» Das sei häufig kontraproduktiv: «Wir lernen doch an Problemen und nicht an starren Alltagsgewohnheiten.» Ähnlich denkt Bestatter Adrian Hauser: «Über psychische Schmerzen oder verletzte Gefühle äussern wir uns viel seltener als über eine sichtbare Krankheit oder Verletzungen. Darüber zu sprechen, macht uns aber menschlich.»
Fallbeispiel:
Was passiert nach einem Zugunglück?
«Nach besonderen oder traumatisierenden Ereignissen im Schienenverkehr leistet das siebenköpfige SBB Care Team psychologische und praktische Unterstützung und organisiert die Betreuung von Kunden, Angehörigen sowie Mitarbeitenden», sagt Paul Künzler, Leiter SBB Care. Für solche Einsätze steht ein Pool von 350 freiwilligen SBB-Mitarbeitenden zur Verfügung. Zu diesem gehören Peers, Mitarbeitende aus der Logistik und der Einsatzleitung sowie CareGiver. «Bei grösseren Ereignissen ist der Teamleiter Care mit seinen CareGivern vor Ort und betreut Kunden oder Mitarbeitende. Peers leisten in erster Linie Kollegenhilfe», sagt Künzler. So kümmern sich Lokführerkollegen bei einem Personenunfall beispielsweise um Lokführer oder Kundenbegleiterkollegen um Kundenbegleiter. «Die Care Teams sind zudem Informations- und Anlaufstelle sowie für die Sensibilisierung und Schulung der Mitarbeitenden und Führungskräfte zuständig.» Ergänzend zu diesem Angebot können sich Mitarbeitende und Führungskräfte nach einem Vorfall über die interne Stelle «Sozialberatung und Psychiatrische Gesundheit», telefonisch oder per E-Mail beraten lassen.