HR Today Nr. 10/2020: Betriebliches Gesundheitsmanagement

Arbeiten, wenn andere schlafen

Schichtarbeit ist in unserer Gesellschaft zunehmend verbreitet, da Dienstleistungen rund um die Uhr nach­gefragt werden. Sie kann jedoch zu gesundheitlichen Spätfolgen führen. Wie Unternehmen damit umgehen.

Ein schriller Pfeifton hallt bei Schutz & Rettung Zürich durchs Gebäude bei der Weststrasse. «Das ist ein Alarm», sagt Martin Baumann, HR-­Berater der Berufsfeuerwehr, und zeigt auf den überdimensionalen Bildschirm beim Eingangs­bereich, auf dem die von der Einsatzleitzentrale erfassten Daten über einen Ticker laufen. «Ein Rauchmelder hat einen Notruf ausgelöst und die Einsatzleitzentrale einen Löschzug angefordert», erklärt Baumann die kryptischen Zeichenfolgen.

Die Feuerwehrmänner, die eben noch Wurst und Brot gegessen haben, sitzen innert einer ­Minute in Brandschutzausrüstungsmontur in den Fahrzeugen und rücken aus. Solche Einsätze seien keine Seltenheit, sagt Martin Baumann. «In Zürich brennt es täglich.» Meist Container, Abfallkübel oder Gartenhäuschen. Grossbrände seien selten. «Das passiert alle fünf bis zehn Jahre.» Beispielsweise vor wenigen Monaten, als beim Bahnhof Zürich ein Grossgebäude in Vollbrand stand und völlig zerstört wurde. Trotz ­realer Brandmeldungen gingen bei der Feuerwehr auch viele Fehlalarme ein. «Dennoch müssen wir jeder Meldung nachgehen», sagt Baumann «Nicht jedes Feuer wird sofort entdeckt, das einen grossen Schaden anrichten könnte.» Dieses Mal scheint alles gut gegangen zu sein: Nach fünfzehn Minuten ist die Feuerwehrmannschaft bereits in der Wache zurück.

Retter in der Not

«Ich wollte schon als Kind Berufsfeuerwehrmann werden», sagt Thorsten Stauss, der seit 2004 als einer von 240 Berufsfeuerwehrmännern bei der Stadt Zürich arbeitet. Seine Talente kann der gelernte Schreiner vielfältig einbringen. Beispielsweise in der feuerwehreigenen Schreinerei oder Metallwerkstätte: «Dort stellen wir vieles wie Ersatzteile für Feuerwehrautos für den täglichen Gebrauch selber her.» 70 ­Prozent seiner Zeit verbringt Stauss aber nicht wie vermutet mit Feuerlöschen, sondern mit Teamübungen, Sport oder Unterhaltsarbeiten. Auch Bergungsarbeiten zählen dazu, wenn ­beispielsweise jemand in seiner Wohnung unbemerkt verstorben ist. «Das passiert in Zürich ­wöchentlich.»

Ist Stauss für eine Schicht eingeschrieben, lebt er sozusagen auf dem Feuerwehrgelände. Dort stehen ihm ein Schlafzimmer, eine Wohnstube, die sogenannte Wache, und ein Fernsehzimmer zur Verfügung. In Alarmstimmung lässt sich jedoch nicht gut schlafen: «Bei einem Einsatz in der Nacht müssen wir innert 75 Sekunden beim Fahrzeug sein.» Die Erholung komme dennoch nicht zu kurz: Auf eine 24-Stunden-Schicht folgen jeweils zwei freie Tage. Dennoch ist er jeden dritten Tag von zu Hause weg. «So lange am Stück abwesend zu sein, ist nicht jedermanns Sache. Der Partner oder die Partnerin muss damit leben können.» Auch damit, dass Feuerwehrmänner und -frauen nicht an jedem Familienfest teilnehmen können oder an Weihnachten oder Silvester in einer Schicht eingeplant sind.

Doch beherrschen Feuerwehrmänner und -frauen ihr Arbeitsrepertoire einfach so? Mitnichten: Stauss’ Arbeit erfordert wie beispielsweise bei Liftrettungen ein ständiges Dazulernen on the Job: «Früher genügten zwei Handgriffe, um jemanden aus einer misslichen Lage zu befreien. Heute ist in jedem Lift viel Elektronik verbaut.» Um zu wissen, was zu tun ist, müsse man die Baupläne kennen. Deshalb besucht Stauss viele Weiterbildungen, die er in Absprache mit seinen Vorgesetzten plant. «Den Erwachsenenbildner-Kurs beim SVEB habe ich beispielsweise während meiner Dienstzeit gemacht. Das hat gut funktioniert.» Intern nimmt er zudem an Übungstagen teil, bei denen Feuer in einem Brandhaus oder einem originalgetreu nachgebildeten DC10-Flugzeug gelöscht werden.

Feuerwehrmänner und -frauen gelten als Helden und Heldinnen. Wer will nicht einer von ihnen sein? Rekrutierungsprobleme kennt die Stadt Zürich in diesem Bereich jedenfalls deshalb keine: Auf sechs zu besetzende Ausbildungsplätze bewerben sich jeweils rund 120 Personen. «Nebst dem attraktiven Berufsbild ist der Rekrutierungserfolg auch der Schichtgestaltung geschuldet», sagt HR-Leiterin Beatrice Potisk. Die grosszügigen Zulagen spielen bei der Rekrutierung indes kaum eine Rolle.

Während die Personalgewinnung bei der Feuerwehr mühelos gelingt, gestaltet sich diese in anderen Branchen trotz Schichtzulagen deutlich schwieriger. Zum Beispiel in der Papierindus­trie. «Trotz unserem guten Netzwerk und unserem Ruf als moderner und sicherer Arbeitgeber ist die Rekrutierungsphase für fachlich gut ausgebildetes Personal deutlich länger geworden», sagt Annina Ulmann, HR Manager der Perlen Papier AG.

Nicht für alle Zeiten

Sinkende Zulagen, aber auch gesundheitliche Belastungen wie Schlafstörungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder chronische Verdauungsbeschwerden halten Arbeitnehmende davon ab, Schicht zu arbeiten. «Hinzu kommt, dass es mit dem Älterwerden schwieriger wird, sich den wechselnden Arbeitszeiten anzupassen», erklärt Schlafspezialist Remo Sigrist von der Klinik für Schlafmedizin in Luzern. Die mit Schichtarbeit verbundenen gesundheitlichen Probleme seien vor allem auf die Nachtschicht zurückzuführen: «Nachtarbeitende schlafen, wenn ihre biologischen Vorgänge aktiv sind, und arbeiten in deren Ruhephase», sagt Sigrist. «Das führt nicht nur zu Schlaflosigkeit oder Tagesschläfrigkeit, sondern birgt auch ein erhöhtes Unfallrisiko.» Schichtarbeitende litten zudem im sozialen und familiären Umfeld oft an ihrem abweichenden Rhythmus zur Gesellschaft. Der Griff zu Suchtmitteln sei da naheliegend: «Alkohol- und Drogenabhängigkeit sind Folgen eines fehlgeleiteten Lösungsversuchs, Schlafstörungen und Müdigkeit in den Griff zu bekommen.»

Dass vor allem Nachtschicht mit gesundheitlichen Mehrbelastungen einhergeht, ist auch für Stephan Berger, Geschäftsleiter der Fachstelle UND, einem Kompetenzzentrum für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, unbestritten: «Kompensieren lassen sich die dadurch bedingten Ermüdungserscheinungen vor allem durch längere Regenerationszeiten.» Damit Mitarbeitende nicht erkranken und ausfallen, sei ein betriebliches Gesundheitsmanagement und ein funktionierender Dialog zwischen Arbeit­gebenden und Arbeitnehmenden besonders wichtig. Etwa, um einen internen Jobwechsel und dazu allfällig notwendige Weiterbildungen rechtzeitig zu veranlassen. Schichtarbeit könne aber auch das Gegenteil eines Stressfaktors ­darstellen, meint Berger: «Ich habe Situationen erlebt, in denen Arbeitnehmende ihre familiären Verpflichtungen mit den beruflichen dadurch besser in Einklang bringen konnten.» Beispielsweise aufgrund geteilter Schichten mit ausgedehnten Mittagspausen.

Vorsorgen statt reparieren

Erkrankungen von Berufsfeuerwehrleuten, die einen Zusammenhang zur Schichtarbeit haben, sind HR-Leiterin Beatrice Potisk trotz langer Betriebszugehörigkeit und höherem Altersdurchschnitt kaum bekannt: «Durch unser 24/48-Modell haben unsere Mitarbeitenden kaum gesundheitliche Probleme. Ab dem 55. Lebensjahr gewähren wir ihnen zudem zusätzliche freie Tage zur Erholung.» Um Erkrankungen vorzubeugen, bietet Schutz & Rettung Zürich Mitarbeitenden ausserdem ein zehnmonatiges auf fünf Modulen aufgebautes Programm. In diesem werden Themen wie Gesundheit, Unternehmenswerte, Kommunikation, der Umgang mit Stress und die Gestaltung des Arbeitsumfelds behandelt. Daneben hat die Organisation ein Nachsorgekonzept entwickelt, das Mitarbeitende unterstützt, Belastendes baldmöglichst anzusprechen. Dafür stehen ihnen Psychologen für Kriseninterventionen, Beratungsgespräche oder Coachings, ­psychosozial ausgebildete Kollegen oder ein zu 50 Prozent beschäftigter Seelsorger zur Seite.

Auch beim Papierhersteller Perlen und dem Verpackungsspezialisten Rondo Packaging ist die gesundheitliche Vorsorge Thema. Um Mitarbeitenden mehr Zeit für die Regeneration zu verschaffen, arbeitet Perlen Papier AG in vier verkürzten Schichten an sieben Wochentagen. Bei Rondo Packaging setzt man dagegen auf drei in fünf Tagen rückwärtsrotierende Schichten: Nacht-, Spät- und Frühschicht. Letzteres im Gegensatz zu dem vom Seco empfohlenen vorwärtsrollenden Schichtmodell. Für das Verpackungsunternehmen dennoch kein Grund, dieses anzupassen: «Unsere Mitarbeitenden haben beim vorwärtsrotierenden Modell vermehrt über Schlafstörungen geklagt. Ausserdem müssen wir aufgrund der hohen Auftragslage samstags manchmal eine sechste Nachtschicht einplanen. Das gelingt mit einem rückwärtsrotierenden Modell leichter, weil die Nachtschicht am Sonntag um 22 Uhr beginnt und am Freitag um 6 Uhr endet», sagt HR-Leiterin Petra Meier.

Bei der Berufsfeuerwehr bei Schutz & Rettung Zürich und der Perlen Papier AG werden die Schichtpläne ein Jahr im Voraus festgelegt. «Ferien und individuelle freie Tage sowie Weiterbildungssequenzen werden so gleich eingeplant», sagt HR-Leiterin Potisk. «Daneben können Mitarbeitende ihre Schichten aber auch untereinander tauschen.» Ein Vorgehen, das auch bei der Perlen Papier AG zum Zug kommt. Dennoch: Einen perfekten Plan gibt es nicht. Doch wie lassen sich Schichtpläne verbessern? «Durch eine grösstmögliche Auswahl an Schichtdiensten und Arbeitszeitmodellen», sagt UND Geschäftsführer Stephan Berger. «Technische Planungstools unterstützen die Betriebe, ihre personellen Ressourcen einzuplanen und den Mitarbeitenden grösstmögliche Flexibilität zu gewähren. Im Idealfall entstehen so Win-win-Situationen für Arbeitgebende und Arbeitnehmende.»

Nacht- und Schichtarbeit

Einige Vorgänge im Körper werden von einer inneren Uhr gesteuert, die wir nicht beeinflussen können. So verändern sich nachts der Hormonhaushalt, die ­Körpertemperatur und die Verdauung. Schichtarbeit und Nachtarbeit stellen diesen Rhythmus auf den Kopf. Um Schlafstörungen oder Magen-Darm-­Probleme abzubauen, hat das Eidgenössische Departement für Wirtschaft, ­Bildung und Forschung (WBF) mit der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung (SGE) eine Broschüre mit Ernährungsempfehlungen bei Nachtarbeit ­erarbeitet. Diese kann auf der Website des Seco heruntergeladen werden. Dort finden sich zudem weiterführende I­nformationen zum Arbeitsgesetz, zur Bewilligungspflicht von Schichtarbeit ­sowie zu den Ruhezeiten. seco.admin.ch

 

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Chefredaktorin, HR Today. cp@hrtoday.ch

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