HR Today Nr. 12/2016: Ethik

Wunsch und Wirklichkeit

Ethik-Pflichtenkataloge von Unternehmen kommen oft blumig daher. In der Realität werden sie jedoch kaum gelebt. Diese Diskrepanz hat verschiedene Gründe, die Gastautor Mathias Schüz anschaulich auslotet. Dabei nimmt er HR in die Pflicht und zeigt konkrete Handlungsfelder auf.

Ethisch verantwortungsvolle Führungskräfte – «Responsible Leaders» – sind eine knappe Ressource. Dies legen zahlreiche Firmenskandale nahe. Ob manipulierte Abgastests, explodierende Kernkraftwerke, Ölplattformen oder Smartphones: Die zuständigen Manager scheinen blind zu sein für die langfristigen Neben-, Rück- und Fernwirkungen ihrer Entscheidungen. Journalisten des Nachrichtenmagazins «Der Spiegel» publizierten im Oktober die Ergebnisse ihrer monatelangen Recherchen für die Gründe des Niedergangs der Deutschen Bank. Kenner und Insider des Finanzkonzerns monierten vor allem die einseitig strategische Ausrichtung als globale Investmentbank und die Kultur, die geprägt sei von Lastern wie «Gefallsucht, Gier, Provinzialität, Feigheit, Verlogenheit, Inkompetenz, Schwäche, Hochmut, Versagertum, Dekadenz, Arroganz, Biedersinn, Naivität». Diese Verhaltensweisen hätten nicht nur das Verhältnis des Geldhauses zu seinen Mitarbeitenden, Kunden, Inves­toren und der Gesellschaft schwer belastet, sondern sogar dessen Existenz bedroht. Dafür sprechen auch die 7800 anhängigen Rechtsstreitigkeiten mit Schadenersatzforderungen im zweistelligen Milliardenbereich. Hinter jedem dieser Fälle sind unzufriedene oder gar enttäuschte Stakeholder zu vermuten. Die Selbstdarstellungen der Deutschen Bank liefern ein ganz anderes Bild. So fordert die Firma in ihrem Verhaltens- und Ethikkodex von allen Mitarbeitern, dass  eine «Leistungskultur (…) mit einer Kultur der Verantwortung» einhergehen muss, bei der hohe «Umwelt- und Sozialstandards» beachtet werden sollen. Auch gelte es, die Tugenden der «Integrität, nachhaltigen Leistung, Kundenorientierung, Innovation, Disziplin und Partnerschaft» zu entwickeln.

Warum klaffen Wunsch und Wirklichkeit auch bei anderen Firmen so weit auseinander? Der erste Grund lieg im mangelnden Verständnis dafür, was ethische Verantwortung bedeutet und welche Massstäbe sich dahinter verbergen, der zweite Grund in den widersprüchlichen Signalen aus den Chefetagen.

Die Bedeutung der ethischen Verantwortung

Verantwortung ist ein Konzept des Handelns. Ein handelndes Subjekt – zum Beispiel ein Unternehmen – ist verantwortlich für die Konsequenzen seiner Aktivitäten vor unterschiedlichen Instanzen: vor einem Gerichtshof, der Öffentlichkeit oder sonstigen Stakeholdern. Es steht ihnen Rede und Antwort auf die Frage: «Was hast du getan?» Je nach Massstab und Interessenlage werden die Antworten unterschiedlich beurteilt, gelobt oder sanktioniert. Dieselmotoren, die den Abgastest bestehen, wurden jahrelang als umweltfreundlich und profitabel begrüsst, bis man im Normalbetrieb die weit überhöhten Emissionen entdeckte. Verschiedene Instanzen ziehen nun aus unterschiedlichen Gründen die Verursacher zur Verantwortung. Jeder Akteur ist auf diese Weise im Netz der Ansprüche unterschiedlicher Stakeholder gefangen – ob ihm das bewusst ist oder nicht.

Demzufolge ist verantwortliches nicht mit ethischem Handeln zu verwechseln. Denn es gibt Instanzen, die durchaus auch kriminelles Handeln einfordern. Zum Beispiel, wenn der Vorgesetzte Zielvorgaben macht, die – wie im Fall der erwähnten Dieselmotoren – nur unter Umgehung von Gesetzen erreichbar sind.

Definition von Ethik

Was versteht man also unter Ethik? Ethik handelt vom «guten Auskommen miteinander». Je nachdem, wie man «gutes Auskommen» erlangen möchte – etwa durch Integrität, Respekt, Gerechtigkeit, Sicherheit,  Nichtverletzen – und wie weit man das Miteinander – vom Nächsten über alle Menschen bis hin zu allen Lebensformen – versteht, entstehen unterschiedliche Ansätze der Ethik. Während man noch vor wenigen Jahrzehnten in Unternehmen das gute Auskommen auf die Aktionäre beschränkte, hat sich heute die Einsicht durchgesetzt, dass man mit möglichst allen Stakeholdern gut auskommen sollte. Fühlen sich etwa Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten oder Anwohner benachteiligt und ungerecht behandelt, setzen sie ihre Interessen mit Hilfe von Streiks, Reklamationen, Boykotts oder Rechtsmitteln gegen das Unternehmen durch, was die Transaktionskosten in die Höhe treibt. Folglich ist es langfris­tig ökonomischer, mit möglichst vielen Stakeholdern gut auszukommen.

Schon aus dieser Definition der Ethik ergibt sich ein grosses Aufgabenfeld für HR: Die Verantwortlichen tragen in vielerlei Hinsicht zum guten Auskommen der Mitarbeitenden bei. Bei der Rekrutierung, der Mitarbeiter- und Führungskräfteentwicklung, der Leistungsbeurteilung sowie den Entlöhnungssystemen kann und soll HR ethische Ziele mitverfolgen. So beispielweise, wenn HR bereits bei der Personalselektion Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltensweisen nicht nur als Ausdruck kognitiver, sondern auch emotionaler bzw. sozialer Intelligenz identifiziert. Die  Auswahl von Ellenbogentypen etwa könnte sonst eine Organisationskultur der Gewinnmaximierung oder des Mobbing fördern, was auch zu einem schlechten Auskommen mit internen wie externen Stakeholdern führt.  Ein zweites Beispiel: In der Vermögensverwaltung sollten Bonuszahlungen nicht allein an der Anzahl Transaktionen, sondern auch am langfristigen Wachstum des Kundenvermögens gemessen werden, um das Image des Private Bankings zu verbessern.

Traditionelle Ethikansätze

Welche Massstäbe hat die Ethik bisher entwickelt, um ein gutes Auskommen mit möglichst vielen Stakeholdern langfristig sicherzustellen? Erstens kann man dafür sorgen, dass die Konsequenzen des Handelns zum guten Auskommen mit möglichst vielen Betroffenen beitragen. In der Tat gibt die Nützlichkeitsethik («utilitaristische Ethik») darauf eine Antwort. Deren Formel besagt: Produziere mit deinem Handeln das grösste Gut für die grösste Zahl, also Nützlichkeit für möglichst viele. Dies setzt voraus, dass alle Stakeholder gleichwertig behandelt werden, der Eigennutzen also keinen Vorrang hat. Es macht also Sinn, nicht nur bei Grossprojekten die Bedürfnisse aller Betroffenen abzuwägen. Eine gekonnte Kommunikation mit den Stakeholdern – etwa über den runden Tisch – sollte für alle akzeptable Lösungen zur Vermeidung oder zum Ausgleich voraussehbarer Schäden ermöglichen. Die Formel der utilitaristischen Ethik schützt vor allem Mehrheiten. Minderheiten können unter Umständen für das grössere Gut oder Gemeinwohl geopfert werden. So müsste man bei der Programmierung von selbstfahrenden Autos nach diesem Ethikansatz  in einer Unfallsituation die Insassen opfern, wenn dadurch eine grössere Anzahl Fussgänger gerettet würde.

Der zweite Ethikansatz – die Pflichtenethik oder «deontologische Ethik» – begründet Pflichten, die es einzuhalten gilt. Dies können ausgefeilte Verhaltensregeln sein, die bei manchen Unternehmen in die Hunderte gehen und ganze Kataloge füllen. Oder sie verpflichten sich zu den zehn Prinzipien des UN Global Compact, und damit auch zu den 30 Artikeln der Menschenrechte. Dazu zählen die Pflichten, existenzsichernde Löhne zu zahlen, begrenzte Arbeitszeiten sicherzustellen  und Zwangsarbeit abzulehnen. Unter dem Stichwort Compliance mit dem Ziel der Einhaltung der vorgegebenen Regeln ist dieser Ethik­ansatz in Unternehmen am meisten verbreitet.

Allerdings haben immer mehr Unternehmen erkannt, dass mit Vorschriften alleine die Mitarbeiter nicht zum ethischen Handeln zu bewegen sind. Im Gegenteil: Je mehr Vorschriften, Ge- und Verbote unter Strafandrohung den Handlungsspielraum von Mitarbeitern einengen, desto grösser die Gefahr, dass eine Kultur des Misstrauens und der Angst entsteht. Bei der Firma Daimler hat man dies erkannt und die ursprünglich 1800 Regeln erheblich reduziert, stattdessen die alte Tugend der Integrität wieder entdeckt. Die Mitarbeiter werden so geschult, dass sie ihr Verhalten nicht allein nach Vorschriften orientieren, sondern aus innerer Einsicht erkennen, was richtig oder falsch ist, um zum guten Auskommen mit allen Stakeholdern beizutragen. Die Tugendethik ist der dritte Ansatz, mit dem der Charakter des Einzelnen wie auch die Kultur des ganzen Unternehmens zu einem ethischeren Verhalten gebracht werden können. Die Orientierung an den besten Praktiken ist dabei fundamental.

Buchverlosung

Mathias Schüz: Angewandte Unternehmensethik. Grundlagen für Studium und Praxis Verlag Pearson, 2016. 366 Seiten

Was hat Ethik mit meinem beruflichen Alltag zu tun? Wie kann ich ethische Verantwortung übernehmen und gleichzeitig zum Erfolg meines Unternehmens beitragen? Das Lehrbuch vermittelt die wichtigsten Grundlagen und Ansätze der Unternehmensethik. Mit Hilfe von Fallbeispielen und Übungen diskutiert der Autor komplexe Probleme, Dilemmata und Risiken aus der Praxis und zeigt auf, wie sich Lösungswege systematisch aus interdisziplinärer Forschung und philosophischer Reflexion ergeben.

An der Verlosung teilnehmen

Senden Sie uns bis Freitag, 7. Dezember 2016 eine E-Mail mit Ihren Kontaktangaben (Firma, Name, Vorname, Funktion, Adresse, Telefon) und dem Betreff «Buchverlosung Unternehmensethik» in der Betreffzeile an: redaktion@hrtoday.ch

Herausforderung für HR

Zur Entwicklung ethischer Kompetenz aller Mitarbeiter ist HR in besonderem Masse gefordert. Ihm obliegt normalerweise auch Aus- und Weiterbildung in Unternehmen. Dabei sollten nicht nur Fachwissen, sondern auch Persönlichkeitsbildung im Vordergrund stehen. Schulungen zur gewünschten Unternehmenskultur leben nicht nur von der Vermittlung, Interpretation und Anwendung vorhandener Codes of Conduct im Sinne der Pflichtenethik,  sondern auch von beispielhaften Geschichten, in denen Eigeninitiativen zur Umsetzung als Vorbild für andere dienen, im Sinne der Tugendethik. Die dafür erforderliche Didaktik sollte weit über die reine Wissensvermittlung hinausgehen. Rollenspiele, Diskussionsforen, Einzel- und Gruppencoachings, Übungen zu Selbstreflektion und Self-Leadership sind ebenso wichtig wie interdisziplinäres und interkulturelles Lernen. Gerade Letzteres sorgt für die Akzeptanz von Diversity und von empathischem Handeln in kultureller Vielfalt einer globalisierten Welt. Auch die Sensibilisierung und Einschätzung der Konsequenzen eigener Management-Entscheidungen gilt es im Sinne der Nützlichkeitsethik zu fördern.

Dies alles setzt aber das Commitment des Top-Managements voraus, sonst bleibt HR eine Stabsabteilung zur Verwaltung des Personals ohne Einfluss auf die Gestaltung der gelebten Unternehmenskultur.

Damit kommen wir zum zweiten genannten Grund für die Diskrepanz zwischen Einsicht und Verhalten. Er liegt in einer verantwortungslosen Führung. Diese zeigt sich zum Beispiel für Mitarbeiter in Zielvorgaben und Belohnungssystemen, die im Widerspruch zu den gewünschten Werten stehen.  Im Zweifel werden die vereinbarten Ziele umgesetzt, weil davon die eigene Karriere abhängt. Oder das Verhalten der Vorgesetzten selbst entspricht nicht dem gewünschten Ethik-Kodex. Dann dürfte dies kaum den Rest der Belegschaft motivieren, besser zu handeln.

Zentrale Schnittstellen

Deshalb sind gerade Vertreter des HR in die Pflicht genommen, neben der erwähnten Auswahl und Entwicklung neuer Führungskräfte immer wieder Einfluss auf die Schnittstellen zwischen Leadership, Organisation, Gruppendynamik, Individuen und gewünschter Kultur zu nehmen. Denn diese wichtigen Aspekte eines Unternehmens beeinflussen sich wechselseitig. Wird einer davon verändert, wirkt sich das auf das Ganze aus:

  • Wenn ein ein Unternehmen im Rahmen seiner Leadership einen kooperativen Führungsstil proklamiert, in Wirklichkeit aber rein autoritär geführt wird, dann braucht man sich auch nicht zu wundern, dass die gewünschte Kultur vom passiven Widerstand der Belegschaft boykottiert wird und deshalb nur Lippenbekenntnis bleibt.
  • Wenn das Vergütungssystem einer Organisation die Mitarbeiter nur dafür belohnt, in kürzester Zeit möglichst viel Profit zu machen, ist von diesen kaum ethische Verantwortung zu erwarten.
  • Wenn unter Lagerarbeiten eine Gruppendynamik herrscht, die zum Beispiel ein offizielles Rauchverbot missachtet, so ist es nicht weiter erstaunlich, wenn plötzlich eine Lagerhalle mit umweltgefährlichen Stoffen abbrennt.
  • Wenn ein Unternehmen keinen Wert auf charakterlich integre Mitarbeiter legt und stattdessen nur Individuen auf dem Egotrip fördert, braucht es sich am Ende nicht über mangelnde Loyalität zu beklagen.
  • Wenn die Kultur eines Unternehmens Werte vertritt, die von der Gesellschaft nicht mehr toleriert werden oder der Natur den Rest geben, kann dies auch das wirtschaftliche Aus bedeuten.

HR fällt die nie endende Aufgabe zu, die Transformation des Unternehmens von Wunsch nach Wirklichkeit sicherzustellen. Auf die Unternehmensethik heruntergebrochen, sollte HR dabei die drei traditionellen Ethikansätze der ethischen Verantwortung auch um neuere Ansätze erweitern:

  • Die Nützlichkeitsethik um die Zukunftsethik, bei der auch die Nützlichkeit für künftige Generationen berücksichtigt wird.
  • Die Pflichtenethik um die biozentrische Ethik, bei der nicht nur die Pflicht zum Schutz der Würde des Menschen, sondern aller Lebensformen gefordert wird.
  • Die Tugendethik um die Tiefenethik, bei der nicht nur der offizielle Charakter von Mensch und Unternehmen verbessert wird, sondern auch die Schattenseiten und informalen Strukturen durch Selbstreflexion und Self-Leadership bewusstgemacht und in das tägliche Handeln verantwortungsvoll und konstruktiv integriert werden.

Ohne Berücksichtigung dieser vielschichtigen Aspekte beschränkt sich Unternehmensethik auf die Formulierung schön klingender Pflichtenkataloge, die in der Praxis kaum Beachtung finden –  geschweige denn gelebt werden.

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Prof. Dr. phil. Mathias Schüz studierte Physik, Philosophie und Pädagogik, war fast 20 Jahre in Grossunternehmen tätig und ist nun Professor für Responsible Leadership am Zentrum für Human Capital Management an der School of Management and Law (ZHAW).

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