Raus aus dem Elfenbeinturm
Viele Chefinnen und Chefs haben den Draht zur Basis verloren, lautet einer der Vorwürfe an Vorgesetzte. Um das Gegenteil zu beweisen, setzt sich Vorstandsvorsitzender Jens E. Hilgerloh beim TV-Format «Undercover Boss» eine Perücke auf und packt bei der Starcar-Autovermietung handfest mit an.
Vorstandsvorsitzender Jens E. Hilgerloh mischt sich unter den Mitarbeitenden der Starcar Europa Service Group und wickelt inkognito Autovermietungen mit Kunden ab. (Bild: zVg)
Sie ist ein Dauerbrenner: Seit über zehn Jahren läuft die TV-Sendung «Undercover Boss», bei der Geschäftsführende während einer Woche in die Rollen ihrer Mitarbeitenden schlüpfen und unerkannt an der Front mitarbeiten. Unter anderem auf ORF und 3+, aktuell auf RTL im DACH-Raum. Dafür legen sich die Protagonisten nicht nur eine glaubwürdige Geschichte zurecht, sondern verändern auch ihr Aussehen. Neue Kleidung, neue Frisur. «Oft gelingt die Verwandlung derart, dass die Bosse sogar von ihren Lebenspartnern nicht mehr erkannt werden», sagt Oliver Hedderich, der die Produktion von «Undercover Boss» bei Tower Productions verantwortet.
Doch nicht alle von der Produktionsfirma Tower Productions angefragten Firmen wollen, dass sich ihre Chefs die Hände schmutzig machen und sich dabei filmen lassen. Beispielsweise, weil sie «zu bekannt» sind oder die «Hierarchien zu niedrig» seien. «Jene, die mitmachen, tun es vor allem, weil sie etwas für ihre Mitarbeitenden bewegen wollen», sagt Hedderich. Das gelingt relativ mühelos: «Undercover Bosses stossen während ihres Einsatzes ständig auf Dinge, die sich mit geringen Mitteln beheben lassen und die Arbeit für Mitarbeitende verbessern.» Beispielsweise indem sie Unfallverhütungsmassnahmen ergreifen, neue Reinigungstools für Autos oder eine Geldzählmaschine an der Kasse beschaffen. Ein Boss, der anpackt, gewinne zudem an Sympathien, meint Hedderich: «Besonders wenn er sich an einer Aufgabe versucht, die seine Fachkräfte täglich meistern und daran scheitert.»
Doch wie findet man geeignete Mitarbeitende, die ihre Chefs während einer Woche nichtsahnend begleiten? «Wir hören uns in den Unternehmen um. Mehr kann ich dazu nicht sagen, da die Real-Life-Doku ja noch läuft», sagt Hedderich. «Wir inszenieren aber nichts. Die Aussagen der Beteiligten sind alle echt. Sollte ein Chef oder eine Chefin erkannt werden, erzählen wir das auch in der Sendung.» Um das Ganze im Unternehmen geheim zu halten, würden nur wenige Mitarbeitende involviert. «Etwa die Pressestelle oder die Assistenz der Geschäftsführung. Gegenüber allen anderen kreieren wir glaubwürdige Geschichten.»
Vom Vorstand zum Gehilfen
Einer, der sich auf dieses Abenteuer eingelassen hatte, ist Jens E. Hilgerloh, Vorstandsvorsitzender der deutschen Starcar Europa Service Group, die 80 eigene Autovermietstationen in Deutschland besitzt, 1250 Mitarbeitende beschäftigt und jährlich einen Umsatz von rund 200 Millionen Euro erzielt. Er selbst ist «Undercover Boss»-Fan und erkannte in einer der ersten Folgen einer seiner Freunde. «Da wollte ich auch mitmachen.» Es vergehen jedoch Monate, bis es soweit ist: «Eines Tages lag ein Schreiben der Produktionsfirma auf meinem Tisch, die mich als ‹Undercover Boss› gewinnen wollten. Ich sagte sofort zu.»
Mit viel Elan schlüpft Hilgerloh in die Rolle eines ehemaligen Restaurantbesitzers namens Michi, der Pleite ging und eine zweite Chance in der fiktiven Casting-Show «Neustart» erhält. Dafür wird er vom Stylisten «um zehn Jahre verjüngt», trägt eine Perücke und Schnauz statt Bart, Jeans und T-Shirt statt Bügelfaltenhosen und Anzug. Dass seine Geschichte hätte auffliegen können, hielt er für eher unwahrscheinlich: «Die meisten unserer Mitarbeitenden kannten mich nur aus Videos im Intranet.» Trotzdem wird er von einer Verkäuferin beinahe erkannt. «Ihre Stimme kommt mir so bekannt vor», begrüsste sie mich. In der Pause rief sie ihren Chef an und fragte, wo ich sei. Zum Glück war er eingeweiht und erfand eine Geschichte.»
Hilgerlohs erster Arbeitstag als Michi beginnt mit dem Schrubben des Vorplatzes einer der 80 Starcar-Autovermietstationen der Gruppe. «Hier liegen noch Zigarettenstummel», weist ihn sein Mitarbeiter, der ihn betreut, darauf hin. Hilgerloh putzt an diesem Tag nicht nur den Vorplatz, sondern auch die Toiletten und die Mietautos. Es folgen weitere Stationen in der Autovermietung, wo er Fahrzeuge prüft, abnimmt und an neue Kundinnen und Kunden übergibt. Aufgaben, die ihm liegen. «Im Fahrzeugverkauf fühle ich mich zu Hause, auch wenn ich zuletzt nur ganze Autoflotten und keine Einzelfahrzeuge mehr verkauft habe.» Es drohen aber auch handwerkliche Arbeiten. Für einen mit «zwei linken Händen» keine einfache Aufgabe. In einer Filiale, die kurz vor der Eröffnung steht, soll er innerhalb einer Stunde eine Wand auf einer wackligen Leiter gelb streichen. «Beide Hände waren mit gelber Farbe bekleckert, das war nicht mein Ding.» Seine fehlende Begeisterung lässt er sich deutlich anmerken: «Mein Mitarbeiter war richtig verärgert, er fand, ich nehme meinen Job nicht ernst.»
Unfallträchtiger Arbeitsalltag
Unfallträchtig ist auch die Übergabe von Fahrzeugen an einer vielbefahrenen Strasse, als er ein Loch in die Decke neben einer Klimaanlage bohren soll. «Diese Dinge habe ich im Nachhinein verändert und Unfallverhütungsvorschriften an einem Filialleiter-Meeting gesondert geschult.» Insgesamt trifft er aber auf keine groben Fahrlässigkeiten: «Ich war an keiner Stelle so geschockt, dass ich mich zu erkennen geben musste. Im Gegenteil: Ich war richtig zufrieden, wie die Arbeit lief, und stolz auf meine Mitarbeitenden.»
Seine Teilnahme bei «Undercover Boss» hat einen Einfluss auf die Führungskultur: «Die Geschäftsleitungsmitglieder lernten, wie wichtig es ist, sich bei den Autovermietstationen blicken zu lassen. Unser neuer HR-Leiter arbeitet beispielsweise drei Tage bei der Hamburger Autovermiet-Niederlassung.» Schon vor «Undercover Boss» liess es sich Hilgerloh nicht nehmen, von Zeit zu Zeit inkognito in einer seiner Niederlassungen aufzutauchen. «Das geht nun nicht mehr. Unsere Mitarbeitenden wissen jetzt, wie ich aussehe, und kennen meine Stimme.»
Bekanntheitsgrad gesteigert
Daneben hat sich der Bekanntheitsgrad des Unternehmens massiv erhöht. «Am Tag nach der Ausstrahlung hatten wir online deutlich mehr Autoreservierungen als zuvor. Das ist bis heute so geblieben.» Nicht nur der Umsatz sprudelt, es fällt dem Unternehmen zudem deutlich leichter, neue Mitarbeitende zu finden. Und das bei Nachtdienst und Wochenendarbeit. «Wir erhielten schon während der Ausstrahlung der Folge erste Online-Bewerbungen. In den folgenden Wochen konnten wir viele gut ausgebildete Mitarbeitende gewinnen. Das hätten wir zuvor nie zu träumen gewagt.» Ausschlaggebend ist für ihn die Mund-zu-Mund-Propaganda: «Jeder unserer 1250 Mitarbeitenden hatte 15 Bekannte und Freunde, die die Sendung gesehen und sie darauf angesprochen haben.»
Nebst der Aussenwerbung hat die Sendung auch eine deutliche Botschaft nach innen gesendet: «Unsere Mitarbeitenden sind stolz, für uns zu arbeiten.» Wie sich das zeigt? «Sie tragen unsere Starcar-Kleider jetzt sogar in der Freizeit. Die Nachfrage nach Starcar-Kleidungsstücken hat in unserem Onlineshop so stark zugenommen, dass wir unser Angebot ausbauten.» Hilgerlohs Fazit? «Ich würde diese Erfahrung nicht missen wollen. Als ‹Undercover Boss› gearbeitet zu haben, gehört zu meinen besten beruflichen Erfahrungen.» Und das, obschon der Aufwand mit Vorbereitung, einem Styling-Termin und fünf Drehtagen nicht unbedeutend war.
«Undercover Boss»
80 Chefinnen und Chefs in einem Zeitraum von zwölf Jahren. Das ist die Bilanz der TV-Serie «Undercover Boss», die seit 2011 auf verschiedenen TV-Sendern in der DACH-Region läuft, aktuell auf RTL. Für künftige Folgen werden Chefinnen und Chefs gesucht. Wer Interesse hat, meldet sich unter towerproductions.de.