Niemand kann demnach mit gutem Gewissen gegen eine Leadership-Entwicklung sein. Ein starkes Argument, diese Position von HR zu verteidigen. Der Anspruch, die Führungskräfte zu entwickeln und auf die Herausforderungen vorzubereiten, ist also gut begründet.
Wie aber sieht die Realität aus? Eine Befragung von HR-Verantwortlichen scheint dieses Bild zunächst zu bestätigen. Am Zentrum für Human Capital Management (ZHCM) wurde eine Umfrage bei 70 HR-Managern und -Managerinnen in acht Schweizer Grossunternehmen der Finanzdienstleistungs-, Versicherungs- und Dienstleistungsbranche (inklusive Detailhandel) durchgeführt, um zu eruieren, welche Themenfelder in der Beratung von Linienverantwortlichen eine Rolle spielen (siehe Grafik 1).
Deutlich wird hier, dass Führungsberatung aus Sicht des HR-Managements an fünfter Stelle genannt wurde und mit 52 Prozent eine häufig in Anspruch genommene Beratung darstellt. Noch häufiger jedoch berät HR bei der Rekrutierung, zu Saläraspekten sowie bei personalrechtlichen Fragestellungen und bei der Personaladministration.
Erforschung des Fremdbildes
Wenden wir uns nun der zweiten Frage zu, was Linienführungskräfte von ihrem HR erwarten. Die Suche nach dem Fremdbild von HR führt in den erwähnten Studien der Beratungsunternehmen zu weit weniger Resultaten. Was mögen die Gründe dafür sein? Dazu nur zwei mögliche Antworten:
- Weil es HR nicht interessiert. Deshalb führen Beratungsunternehmen auch keine Umfragen durch.
- Weil es die Linienführungskräfte nicht interessiert. Es ist nicht möglich, genügend Manager zu finden, die sich für Fragen zum HR Zeit nehmen.
Beide möglichen Antworten zeigen das Dilemma deutlich auf. Einerseits der Hang von HR zur Nabelschau. Andererseits deren geringe Bedeutung in der Realität.
Die wenigen verfügbaren Untersuchungen zeigen diesbezüglich auf, dass die Bedeutung und der Beitrag von HR nicht in allen Punkten mit dem eigenen Anspruch übereinstimmen. Eine in Deutschland durchgeführte Umfrage zeigt, dass Personaler das eigene Image und den Wertschöpfungsbeitrag deutlich höher einschätzen als beispielsweise die Führungskräfte (Beck & Bastians, 2011). Ab und zu äussern sich auch CEO zu der Frage, was sie vom HR erwarten. Dabei fokussieren sie in der Regel auf das geschäftliche Umfeld. HR muss verstehen, wie das Geschäft funktioniert und wie das Unternehmen Geld verdient. Der Beitrag von HR besteht darin, die Bedeutung des Humankapitals in die Unternehmensführung einfliessen zu lassen und die Interessen der Humankapitalträger aufzuzeigen. Eine durchaus herausfordernde Aufgabe, die zentral den Unternehmenserfolg im Blick hat. Es geht also nicht um die Frage, welche Themen HR-Verantwortliche auch noch gerne auf die Topliste setzen möchten, sondern, was das Unternehmen benötigt, um zusammen mit den Mitarbeitenden erfolgreich zu sein.
In der schon oben angesprochenen Umfrage des ZHCM wurden nicht nur HR-Manager und -Managerinnen, sondern auch Linienführungskräfte befragt. Wie der Grafik 2 zu entnehmen ist, zeigt sich hier ein etwas verändertes Bild bezüglich der Inanspruchnahme von HR-Beratungsleistungen. So gaben – in denselben acht befragten Unternehmen – nur 10 Prozent der 86 Linienmanager und Linienmanagerinnen an, dass sie bei HR häufig eine Führungsberatung in Anspruch nähmen. Eindeutiger Favorit der von der Linie in Anspruch genommenen HR-Beratungsleistungen ist die Unterstützung bei der Rekrutierung. In diesem Punkt decken sich Selbst- und Fremdbild, wenn auch das Ausmass anders eingeschätzt wird. Die Führungsberatung stellt zusammen mit der strategischen Beratung aus Sicht der Linie ein eher wenig genutztes Beratungsfeld dar.
Die Linienmanager bewerteten zudem explizit die HR-Beratung. Dazu wurde ihnen eine Liste mit Aussagen, welche aus der Literatur abgeleitet wurden (u. a. Tsui et al., 1997; Wright et al., 2001), zum Rating vorgegeben. Im Antwortverhalten der Linienmanager wird deutlich, dass es HR noch nicht gelingt, das Führungsverhalten der Linie aktiv positiv zu beeinflussen. Offensichtlich wird HR nicht als gleichwertiger Partner angesehen.
Des Weiteren wurde die wahrgenommene Effektivität der HR-Abteilung eruiert. Dazu wurde die Wichtigkeit der Effektivitätskriterien dem aktuellen Erfüllungsgrad (Ist) der Kriterien gegenübergestellt. Die Grafik 3 veranschaulicht, dass es diesbezüglich eine Differenz zwischen den Einschätzungen seitens HR und Linie gibt. Deutlich wird darüber hinaus, dass die Linie grundsätzlich zufrieden mit der HR-Beratung ist, wenngleich die Linie den Schwerpunkt der HR-Beratung in der Unterstützung des operativen Geschäfts mit Hilfe von Informationssystemen, Verfahren und Instrumenten sieht.
Ein Blick in die Praxis unterstützt dieses Bild. Das mittlere und das untere Management werden immer stärker belastet. Die Aufgaben und die damit verbundene Verantwortung nehmen zu, ebenso wie die Führungsspanne. Zusätzlich werden die vorhandenen Prozesse, zum Beispiel im Performance Management, administrativ überladen. Die Aufgabe, Teams in ihrer Leistungserbringung zu fördern, verliert an Bedeutung. Hauptsache, das Formular des formalen Prozesses wird ausgefüllt, unterschrieben und abgelegt. Zudem werden variable Entlöhnungssysteme, welche kurzfristige, quantitative Ziele gegenüber langfristigem Denken und Handeln bevorzugen, weiterhin hartnäckig verteidigt. Eine eigenständige Leistungsbeurteilung in Bezug auf Verhaltens- und Leistungsziele wird in einigen Branchen den Führungskräften nicht zugetraut, so dass die Quoten der Top-Performer und Low-Performer vorgegeben werden. Vor diesem Hintergrund geraten Entwicklungsbemühungen zu mehr Eigenverantwortung zur Farce.
Anspruch und Realität fallen weit auseinander. Es kann demnach nicht darum gehen, dass HR den Führungskräften aufzeigt, wie sie sich verhalten sollen, frei nach dem Motto: «Wir wissen, was für das Unternehmen gut ist, wenn da nur die Führungskräfte nicht wären.» HR müsste vielmehr auf die vorhandenen Widersprüche hinweisen. In der Realität sind sie jedoch häufig Mitverursacher von wenig wertschöpfenden, administrativen Prozessen, welche es Führungskräften erschweren, Führung und Verantwortung zu übernehmen. Wie kann HR dieser selbstgestellten Falle entkommen? Ein Weg ist eine Auseinandersetzung mit dem Fremdbild.
Eingespielte Prozesse hinterfragen
Welche Handlungsempfehlungen sind aus diesen Überlegungen für die Praxis abzuleiten? Als erstes definiert sich der Anspruch, der HR erfüllen muss, aus der betrieblichen Realität. Dies bedeutet, dass HR sich mit dem unternehmerischen Umfeld gezielt auseinandersetzt und die notwendigen HR-Massnahmen daraus ableitet, anstatt losgelöst von den realen Bedürfnissen eigene Favoritenlisten zu erstellen.
Zweitens muss HR bereit sein, langjährige, eingespielte Prozesse und Modelle, wie beispielsweise MbO-Prozesse, Entlöhnungsmodelle oder Kompetenzmodelle zur Einstufung, auf ihre Wertschöpfung hin zu hinterfragen und gegebenenfalls einschneidende Veränderungen anzustossen, wo solche notwendig werden.
Drittens betrifft der Ruf nach einer neuen Management- und Führungskultur auch HR-Verantwortliche selber. Wer weiterhin unabhängig vom Erfolg der Organisation operative Hektik an den Tag legt, ist in den Augen der Linienführungskräfte nicht glaubwürdig. Die Forderung lautet diesbezüglich: Die eigenen Ansprüche von HR sind mit der Realität zu konfrontieren und allenfalls muss auf Liebgewonnenes verzichtet werden, auch und gerade weil dadurch die Legitimität der eigenen Funktion zur Diskussion gestellt wird. Eine Maxime, die HR in den Führungsseminaren gegenüber Linienführungskräften immer wieder anmahnend predigt.
Literatur:
- Capgemini Consulting (2011). HR Barometer 2011. Bedeutung, Strategien, Trends in der Personalarbeit – Schwerpunkt Organisationsdesign und -entwicklung.
- Kienbaum Management Consultants (2012). HR Klima Index 2012. Die Konjunktur für Personalarbeit.
- Beck, C., & Bastians, F. (2011). HR-Image-Studie 2011. Die Personalabteilung: Fremd- und Eigenbild. Freiburg: Haufe Studien Reihe.
- Tsui, A. S., Pearce, J. L., Porter, L. W., & Tripoli, A. M. 1997. Alternative approaches to the employee-organization relationship: Does investment in employees pay off? Academy of Management Journal, 40(5): 1089–1121.
- Wright, P. M., McMahan, G. C., Snell, S. A., & Gerhart, B. (2001). Comparing line and HR executives’ perceptions of HR effectiveness: services, roles, and contributions. Human Resource Management, 40(2), 111–123.