HR Today Nr. 6/2017: Recruiting

«Algorithmen entlasten das HR»

Künstliche Intelligenz wird die HR-Arbeit massiv verändern. Doch in welchem Ausmass? Darüber haben wir mit der Innovations- und Trendexpertin Karin Vey gesprochen, die im Think-Lab der IBM-Forschung in Rüschlikon tätig ist.

Frau Vey, wenn man in der Presse über künstliche Intelligenz liest, wird oft Watson erwähnt und mit Jeopardy in Verbindung gebracht. Was ist Watson für Sie?

Karin Vey: Watson ist weitaus mehr als ein Supercomputer, der über eine hohe Rechenleistung verfügt und die mathematische Intelligenz von Menschen simuliert: Es ist eine Software, die in der Lage ist, das menschliche Sprachverständnis nachzuahmen. Wir nennen das auch «Cognitive Computing». Damit sind Algorithmen gemeint, welche die menschliche Sprache verstehen und Worte wie «Golf» im Kontext interpretieren können, was zusammenhanglos ja ein Auto, ein Spiel oder eine Flussmündung sein kann. Die Algorithmen können sich zunehmend besser mit uns verständigen, einen sinnvollen Dialog führen, Hypothesen bilden, Schlussfolgerungen ziehen sowie aus der Interaktion mit Daten oder Menschen lernen. Watson ist kein einzelner Algorithmus, sondern eine Plattform in der Cloud, wo man aus über 50 verschiedenen kognitiven Funktionalitäten auswählen kann. Je nachdem, welches Problem man lösen will. Aus einzelnen Bausteinen lassen sich so beispielsweise relativ einfach Chatbots kreieren.

Die kognitive Intelligenz ist also mehr als eine Eintagsfliege?

Gemäss den Studien des internationalen Marktforschungsinstituts IDC betragen die globalen Investitionen im Bereich der künstlichen Intelligenz heute acht Milliarden Dollar und sollen sich bis zum Jahr 2020 auf 47 Milliarden belaufen. IDC geht davon aus, dass bis 2018 die Hälfte aller Verbraucher mit kognitiv basierten Services interagieren wird. Künstliche Intelligenz entwickelt sich also zu einem Megatrend und ist alles andere als eine Eintagsfliege.

Wie könnte künstliche Intelligenz die HR-Welt verbessern?

HR sieht sich zunehmend mit den gleichen Anforderungen konfrontiert, wie sie ein Konsument auch an Serviceanbieter stellt: effiziente, personalisierte und hochwertige Leistungen zu offerieren. Bewerbende und Mitarbeitende wollen jederzeit wissen, in welchem Bearbeitungsstadium sich ihre Anfrage befindet, und Recruiter wollen vakante Stellen möglichst rasch mit passenden Bewerbern besetzen. Derartige Services kann man jedoch nur mit fortgeschrittener Digitalisierung sowie künstlicher Intelligenz erbringen. In Japan nutzt eine Personalvermittlung beispielsweise eine kognitive Watson-Lösung, um jährlich 14 000 Ingenieure in Unternehmen zu platzieren, wobei das kognitive System im Rekrutierungsprozess auch unstrukturierte Daten wie die Inhalte von CVs, Interviewernotizen, Arbeitszeugnissen oder Bewerbervideos erfasst, diese auswertet und daraus auf die Soft Skills der Kandidaten schliesst. Aufgrund der ausgewerteten Daten, die in strukturierter oder unstrukturierter Form vorliegen, kann der Personalvermittler die Kompetenzen, die Erfahrung, die Soft Skills sowie das Verhalten des Kandidaten in schwierigen Situationen bewerten und für die zu besetzende Position einen Matching-Index erstellen, der die Passgenauigkeit festhält. Künftig wird mit «Watson Personality Insights» zudem eine Software eingesetzt, die aus einem Text von 4000 bis 6000 Wörtern die Ausprägung bestimmter Persönlichkeitsdimensionen wie Extraversion, Verträglichkeit oder Gewissenhaftigkeit hinreichend genau zu erfassen vermag. In einem nächsten Schritt soll auch das Social-Media-Verhalten von Bewerbern einbezogen werden.

Wie lautet Ihre Prognose für die Zukunft von HR?

Ich glaube nicht, dass HR künftig weniger gefordert ist. Mit den digitalen Instrumenten wird HR vielmehr kundenorientierter agieren können. Beispielsweise bei rechtlichen Fragen, bei denen die Algorithmen Grundrecherche betreiben. Einfachere Fragen, wie etwa: «Unter welchen Bedingungen kann ich ein Sabbatical machen?» oder «Wie viele freie Tage habe ich bei einem Umzug zugute?», könnte ein intelligenter Chatbot beantworten, der Mitarbeitenden innert Sekunden die richtigen Antworten liefert. Die HR-Abteilung wird von Routinefragen entlastet, während der HR Business Partner Mitarbeitende bei komplexeren Themen berät. In der Weiterbildung können Algorithmen aufgrund der erfassten Mitarbeiterziele sowie der bisherigen Biografie weiterführende Kurse empfehlen, während der HR-Berater mit den Mitarbeitenden neue Karrierepfade ausarbeitet. Etwa, indem er einem Forscher aufgrund seiner übertragbaren Fähigkeiten und seines Wissens einen Entwicklungspfad zum Consultant aufzeigt. Somit bleibt wieder mehr Zeit, um menschliche Kernkompetenzen wie Empathie und Imaginationsfähigkeit für die Entwicklung komplexer und hochwertiger Lösungen einzusetzen und darüber zu diskutieren, was Karriere für die Mitarbeitenden überhaupt bedeutet. Deshalb wird eine bedeutende Herausforderung für das HR darin bestehen, die Ressourcenplanung des Unternehmens durch Vorhersagen zu unterstützen und alle Mitarbeitenden auf die Zukunft mit fortgeschrittener Digitalisierung und künstlicher Intelligenz vorzubereiten. Es gilt, Antworten auf die Fragen zu finden, welche Jobrollen wegfallen, welche neuen Kompetenzen benötigt werden und wie sich die Mitarbeitenden weiterqualifizieren müssen. Eine Aufgabe, die man besser jetzt beginnt und der man zusammen mit der Organisationsentwicklung eine hohe Priorität einräumen sollte.

Welche Kompetenzen und Fähigkeiten sind für HR Professionals im Umgang mit Algorithmen am meisten gefragt?

Algorithmen entlasten das HR. Im Umgang damit benötigen wir aber neben IT-Skills ein vertieftes Verständnis für die Möglichkeiten und Begrenzungen der Systeme sowie eine Rückbesinnung auf menschliche Kernkompetenzen. So lernt eine Maschine nur, was ihr ein Mensch beibringt. Algorithmen können nichts grundsätzlich Neues erfinden. Geht es beispielsweise darum, neue Mitarbeiter-Karrierepfade zu entwickeln, kann der Algorithmus nur eingeschränkt Vorschläge machen, weil er nicht das gesamte Bild einer Person zu erfassen vermag und implizit Gesagtes kaum verstehen kann. Nur der Mensch kann zwischen den Zeilen lesen und dies in sein Handeln einbeziehen. Weil selbstlernende Algorithmen von Menschen lernen, sind diese nicht so objektiv, wie wir es gerne hätten. Um mit künstlicher Intelligenz umzugehen, ist deshalb nebst kreativem auch kritisches Denken ausserordentlich wichtig. Etwa um Vorschläge zu hinterfragen, die einem die Software unterbreitet. Wenn wir etwa versteckte Vorurteile bei Stellenausschreibungen ausschliessen möchten, müssen wir uns Fragen zur Datenqualität und -verlässlichkeit stellen. Ignoriert das System etwa aufgrund unserer Anforderungen geeignete Bewerber, weil wir bestimmte Tätigkeiten anstelle zentraler Metaskills priorisiert haben? Wir müssen lernen, die richtigen Fragen zu stellen, und Vorschläge der Systeme kritisch beleuchten, indem wir im Dialog mit den Systemen Transparenz hinsichtlich der Datenquellen und der Entscheidungsmodelle herstellen. Diese Transparenz ist eine unverzichtbare Bedingung des nachhaltigen Einsatzes von kognitiven Systemen. Richtig eingesetzt, versprechen solche kognitiven Assistenten eine neue goldene Ära in der  HR-Welt.

Zur Person

Dr. Karin Vey ist als Innovations- und Trendexpertin im Think-Lab der IBM-Forschung in Rüschlikon tätig. Zu Karin Veys Forschungsschwerpunkten gehören die Zukunft der Führungskräfteentwicklung sowie die Bedeutung von künstlicher Intelligenz für die Lebens- und Arbeitswelt. Karin Vey ist ausserdem als Hochschuldozentin mit Fokus auf Innovationskultur und -management tätig. Physik und Psycholo­gie bilden ihren akademischen Hintergrund.

 

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Chefredaktorin, HR Today. cp@hrtoday.ch

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