HR Today Nr. 6/2017: Recruiting

Recruiting ohne Rekrutierer?

Die Digitalisierung revolutioniert das Recruiting. Längst geht es nicht mehr darum, aus dem Datenmeer mögliche Kandidaten herauszufiltern, sondern die Candidate Experience zu verbessern, Bewerberdaten zu interpretieren, zu verknüpfen und die richtigen Schluss­folgerungen zu ziehen. Künstliche Intelligenz gewinnt immer mehr an Bedeutung, wie diverse Studien aufzeigen.

Um künftig die Gunst der besten Kandidaten zu erringen, sollten sich Recruiter vermehrt am Konsumentenmarketing orientieren und ihre Services optimieren, konstatiert die «Global Human Capital Trends»-Studie 2017 von Deloitte¹.

Dass verstärkte Anstrengungen notwendig sind, um die Candidate Experience erfreulich zu gestalten, bestätigt auch die Candidate Journey Studie 20172 von Meta-HR und stellenanzei­gen.de². Ein erfolgreiches Bewerbungsverfahren dürfe maximal sechs Wochen dauern, bevor sich Kandidaten verstimmt fühlen. Dass viele Rekrutierungsprozesse nicht optimal verliefen, zeige die hohe Unzufriedenheitsquote nach der Anstellung. So seien rund vier von zehn Neuangestellten von ihren Arbeitgebern enttäuscht.

Eine Studie von Softgarden aus dem Jahr 2016, worin 3500 Bewerber online befragt wurden, kommt zum Schluss, dass sich «ein Grossteil der Bewerber im Verlauf der Bewerbung unangemessen und respektlos behandelt fühlt», etwa, indem sie gar keine oder eine nichtssagende, automatisierte Standardabsage erhalten.

Zudem scheinen sich auch unbewusste Vorurteile bei der Bewerberselektion einzuschleichen, denn gemäss der Studie «Market Insights 2017» von Jobcloud werden Bewerberprofile von Männern beinahe doppelt so häufig von Recruitern angeklickt als solche von Frauen.

Technologien sinnvoll nutzen

Intelligente Algorithmen versprechen nicht nur, menschliche Vorurteile auszuschalten, sondern wirken unterstützend und verbessern den Rekrutierungsprozess, indem sie ihn verschlanken und beschleunigen. Beispielsweise, indem sie einem Kandidaten den Bewerbungsstatus in Echtzeit übermitteln, seinen Cultural Fit evaluieren oder vorhersagen, wie erfolgreich er in seinem neuen Job sein wird.

Noch befindet sich die  Artificial-IntelligenceBewegung in den Kinderschuhen, wie die Studie «Bewerbungspraxis 2016» von Monster³ zeigt, denn erst eine Minderheit von 2,4 Prozent der 1000 befragten Unternehmen nutzt eine einfachere Form der automatisierten Vorselektion. Die Technik verbessert sich jedoch rasch: Artificial-Intelligence-Pionier IBM hat erst kürzlich mit Watson ein System lanciert, das die menschliche Sprache basierend auf wissen-schaftlichen Erkenntnissen mit all ihren Finessen interpretieren und analysieren kann. Das versetzt den Algorithmus in die Lage, Schlussfolgerungen zu ziehen: Etwa darüber, wie hoch der «Candidate Fit» eines Bewerbers ist. Dabei bezieht das System für die Ausarbeitung solcher Empfehlungen nicht nur strukturierte Informationen aus verschiedenen Datenbanken mit ein, sondern auch aus Videos, Chat-Verläufen oder E-Mails, und kann bald sogar die Sozialen Medien «abhorchen».

Damit Firmen solche Technologien sinnvoll nutzen können, müssen Bewerbende allerdings bereit sein, viele Daten preiszugeben. Die Bereitschaft dazu scheint jedenfalls gross zu sein. So waren gemäss der Studie von Monster rund 60 Prozent von 4800 Stellensuchenden damit einverstanden, dass Daten im Rekrutierungsprozess erhoben werden, und 52 Prozent würden sogar persönliche Daten offenlegen.

Mit den vorhandenen Daten und jenen, die im Bewerbungsprozess entstehen, werden intelligente Algorithmen in naher Zukunft noch mehr tun können, als sie aktuell in der Lage sind. Nebst der Fähigkeit, menschliche Sprache zu verstehen und zu interpretieren, werden sie gemäss der «Global Human Capital Trends»-Studie von Deloitte folgende Eigenschaften aufweisen: von anderen Algorithmen lernen (machine-to-machine learning), bessere Voraussagen treffen (predictive algorithms), im Austausch mit Menschen lernen (self-learning) oder Prozesse autonom abwickeln (robotic process automation).

Diese Entwicklungen eröffnen völlig neue Recruiting-Perspektiven: etwa in der Work-force-Planung, bei der Evaluation der besten Recruiting-Kanäle für die Besetzung einer bestimmten Stelle oder bei den Bewerber-Assessments.

Neue Ideen gefragt

Bis Artificial Intelligence in den Unternehmen breit eingesetzt wird, behelfen sich viele Firmen mit bestehenden Technologien, um die Rekrutierungsqualität zu verbessern. Beispielsweise mit Applicant Tracking Systems (ATS), die Zusatzfunktionen wie Echtzeit-Rapporte enthalten, die über alle Kanäle und alle Recruiting-Funktionen hinweg verbreitet werden können. Daneben würden im Rekrutierungsprozess vermehrt Arbeitsplatz-Simulationen oder Games genutzt, wie der Deloitte Studie zu entnehmen ist. Es scheint dabei noch viel Luft nach oben zu geben, denn nur sechs Prozent der weltweit befragten Entscheidungsträger waren davon überzeugt, dass ihr Unternehmen diese Methoden erfolgreich einsetzt. Video sei zwar nichts Neues, aber eine Technologie, die sich erst langsam etabliere, um die Candidate Experience zu erhöhen. Gelungene Beispiele gibt es zu Genüge: So nutzt SAP erfolgreich Cartoons und Video-Games, um Kandidaten die Firmenkultur zu vermitteln, während andere Unternehmen auf Jobbeschreibungen im Videoformat setzen. Auch der Time-to-Hire-Prozess könnte mit dieser Technologie noch deutlich verkürzt werden. Das zeigt das Beispiel der Hotelkette Hilton, die dank der Video-Interviews den Recruiting-Zyklus von sechs Wochen auf fünf Tage verkürzen konnte.

Innovatives Absagemanagement

Die Methoden und Techniken verändern sich nicht nur, um Kandidaten zu umgarnen, sondern auch, um Absagen zu erteilen. Die Erkenntnis, dass Kandidaten häufig auch Kunden oder Entscheidungsträger sind, die man nicht unbedingt verärgern sollte, setzt sich langsam, aber sicher durch. Um abgewiesene Kandidaten trotz ihrer Enttäuschung positiv zu stimmen, hat das Mobilfunkttechnologie-Unternehmen Ericsson 2016 beispielsweise ein Job-Placement-Portal lanciert. Kandidaten, die eine Absage erhalten, werden per E-Mail eingeladen, sich zu registrieren. Nach der Anmeldung erfahren Teilnehmer, wie sie ihre Lebensläufe oder ihre Interview-Skills verbessern, ihr persönliches Netzwerk nutzen oder ihre Jobsuchstrategien anpassen können. Der Erfolg spricht für sich: 98 Prozent der so angesprochenen Bewerber haben sich seit der Lancierung des Portals registriert.

Trotz neuer Technologien haben klassische Rekrutierungswege dennoch nicht ausgedient: Für 51 Prozent der von Deloitte befragten Entscheider sind Mitarbeiterempfehlungen der wichtigste Kanal, um passende Mitarbeitende zu finden, gefolgt von Business-Plattformen wie Xing und Linkedin, die 42 Prozent der Firmen als wichtig erachten, und Social Media, die immerhin 28 Prozent der Unternehmen nutzen, was rund doppelt so viele sind wie in der Befragung aus dem Jahr 2014.

Quellen:

  • ¹ «Global Human Capital Trends»-Studie 2017, Deloitte
  • ² Candidate Journey Studie 2017, Meta-HR, stellenanzeigen.de
  • ³ «Bewerbungspraxis 2016», Monster
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Chefredaktorin, HR Today. cp@hrtoday.ch

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