HR Today Nr. 6/2017: Debatte

Alkoholverbot über Mittag?

Wir leben in einer überregulierten Welt und haben nicht gelernt, eigene Entscheide zu treffen, konstatiert Lerncoach Christoph Schmitt, und seien damit überfordert. Deshalb brauche es ein Alkoholverbot. Der Ethiker Christof Arn appelliert hingegen an Arbeitgebende, den Vorschriftenwildwuchs einzudämmen und Mitarbeitende entscheiden zu lassen.

Christoph Schmitt

Müssen wir eigentlich alles erlauben oder verbieten? Kann der Mensch nicht selbst entscheiden, was sich ziemt und was nicht? Ich bin überzeugt davon, dass wir das sehr wohl können. Wir können die Folgen unseres Handelns abschätzen und wir wissen, welche Konsequenzen dieses hat. Wir wissen, was uns guttut und was nicht – was möglich ist und was nicht. Zum Beispiel Alkohol in der Arbeitspause. Andererseits leben wir in einer Welt, die so tut, als wären wir mit dem selbständigen Entscheiden restlos überfordert. Unser Leben ist wohl auch deshalb durchreguliert. Meine These ist: Wir sind mit selbständigem Entscheiden hoffnungslos überlastet, weil wir es nie gelernt haben. Es wurde und wird uns bis heute konsequent abgenommen. Alles Wichtige und Wesentliche ist reguliert. Nicht nur in der Schule. Auch am Arbeitsplatz, im Strassenverkehr – überall. Deshalb lernen wir im Verlauf unserer Bildungskarriere vor allem das Einhalten von Regeln – und wie wir sie ungestraft brechen können: Wenn wir wissen, wo der Blitzkasten steht, bremsen wir vorher rechtzeitig ab und beschleunigen dann wieder.

So verhalten wir uns aber nicht, weil wir lustverliebte, verantwortungslose Herdentiere wären. Wir tun es, weil wir in einer Welt leben, die uns davon befreit hat, über Sinn und Unsinn dessen nachzudenken, was wir den lieben lang Tag einhalten und was nicht. Ich vermute, dass das von unseren Vorfahren hart erkämpfte Gut der freien Entscheidung für uns gar kein Gut mehr ist. Wir haben uns längst damit abgefunden, dass andere für uns entscheiden: Algorithmen, Produktdesigner, Google. Wir empfinden es als schrecklich anstrengend, selbst entscheiden zu müssen. Deshalb stört uns am Alkoholverbot in der Mittagspause nicht der Verlust der freien Entscheidung, sondern der Verzicht auf ein Bier oder ein Glas Wein. In ethischer Hinsicht sind wir damit ständig unterfordert. Das Meiste könnten wir selbst entscheiden: situationsgerecht und in Abstimmung mit allen Beteiligten. Vom Kauf- und Saufverhalten über das soziale Benehmen bis hin zu der Frage, wie wir unseren Job machen. Aber all das ist vorgeschrieben und so verkümmert unsere Intuition für das Angemessene sowie für das gute Handeln schneller, als wir diese bilden könnten. Wir brauchen unsere Intuition nicht, weil wir in einem dichten Netz von Regeln leben. Deshalb – und nur deshalb – macht es für mich Sinn, klare Verbote zu formulieren. Auch wenn diese etwas aussprechen, was selbstverständlich ist. Dass wir beispielsweise erst zum Alkohol greifen, wenn wir endgültig im Feierabend angekommen sind. Vorausgesetzt, wir haben Lust auf ein Glas. Oder zwei.

Ein Verbot muss ja gar nicht «von oben» kommen. Es kann das Ergebnis einer gemeinsam getroffenen Entscheidung sein. Bei uns gibt’s keinen Alkohol am Arbeitsplatz. Basta. Weil wir das nicht wollen. Damit würden wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Wir geben einen Tarif durch, den wir selber bestimmt haben. Mehr Ethik geht fast nicht. 

 

Den Mitarbeitenden den Entscheid über das Mittagsgetränk zu überlassen, einschliesslich eines Glases Wein oder eines Biers, ist erst mal Anerkennung: Die Organisation traut ihren Leuten zu, mit Alkohol sinnvoll umzugehen.

Ich stand in einer Apotheke, als eine schwangere Frau vor mir eine kleine Flasche irgendwelcher Tropfen abholte. Die Auszubildende zögerte und nahm mit dem Apotheker Rücksprache: Darf ich einer schwangeren Frau eine alkoholische Lösung abgeben? Der Apotheker stellte ihr eine Rechenaufgabe, an deren Lösung ich mich nicht mehr erinnere. Jedenfalls produziert der gesunde menschliche Körper selbst eine geringe Menge Alkohol, mehr, als mit einer üblichen Dosis solcher Tropfen aufgenommen wird. Damit sind wir bei der Menge und um die muss es gehen, denn das

Totalverbot von Alkohol würde dem Menschen ja untersagen, im eigenen Körper Alkohol zu produzieren – eine schwierige Sache. Diese 0,03 Promille müssen drin liegen. Das andere Ende der Skala wäre allerspätestens erreicht, wenn die Fahrtauglichkeit in Frage gestellt ist. Dazwischen unterliegt die Gestaltung des Alkoholkonsums dem gesunden Menschenverstand.

Von einem Piloten wünsche ich mir 0,03 Promille, beim Schalterbeamten ziehe ich vielleicht sogar jemanden mit 0,3 Promille Alkohol im Blut vor. Zudem können Fahrtauglichkeit und Arbeitsfähigkeit auch anders leiden: Etwa durch Schlafprobleme, einen Todesfall im nahen Umfeld oder andere akute psychische Belastungen, Burnout, zu wenig Sport, dauerungesunde Ernährung. Oder: Zwar kein Bier über Mittag, aber zu viel gegessen und nun geht eine Stunde lang kaum etwas. Doch wie viele Eingriffe in die Freiheit der Mitarbeitenden sind legitim? Und warum beim Alkohol? Vielleicht doch, weil hier mehr moralischer Unterton mitschwingt als beim «Workohol»?

Also, liebe Vorgesetzte: Sie haben unterschiedliche Mitarbeitende mit unterschiedlichen Aufgaben und unterschiedlichen Lebensstilen – zum Glück. Trauen Sie Ihren Mitarbeitenden zu, mit den Optionen des Lebens umgehen zu können! Wenn Sie Zweifel haben, reden Sie mit ihnen offen darüber und finden Sie gemeinsam eine passende Lösung. Sparen Sie sich und Ihrer Organisation ein weiteres Papier, das genehmigt, abgelegt, allen Mitarbeitenden kommuniziert und regelmässig aktualisiert werden muss. Ich wäre an dieser Stelle fertig mit meinem Beitrag, wenn mir nicht Folgendes durch den Kopf ginge: Erträgt man Überadministration und Bürokratie vielleicht besser, wenn man sich am Morgen einen Rest von Schlaftrunkenheit bewahrt und mit einem Glas Wein in den Nachmittag startet?

Oder wäre ein Alkoholverbot über Mittag die paradoxe Steigerung des organisationalen Regelungswahns, weil dies dazu führen könnte, dass die Mitarbeitenden den Output von Budgetierungsprozessen, Rapportsystemen und Formularroutinen einmal nüchtern betrachten würden?

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Christoph Schmitt ist promovierter Ethiker. Er arbeitet als Coach für digitales Lernen und Bildungsdesign und unterrichtet unter anderem an der Hochschule Luzern.

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Christof Arn arbeitet als Ethiker für Organisationen und beschäftigt sich mit der Lösungsentwicklung und der Frage, wie wissenschaftliche Ethik der konkreten beruflichen Praxis hilft.

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