Bühne frei für interne Weiterdenker
Wer die Zukunft erreichen will, braucht neue Ideen. Andere Ideen. Bessere Ideen. Viele solcher Ideen. Er muss sich von Veraltetem lösen und Neues wagen, im Kleinen wie auch im Grossen. Ein divergentes Mindset ist dafür elementar.
Vorhang auf: Andersdenkende sollten gefeiert und nicht behindert werden. (Bild: iStock)
Alle reden jetzt vom «New Normal» nach Corona. Doch ein «Normal» wird es nicht geben. Permanente Vorläufigkeit ist fortan die Norm. Alles steht ständig zur freien Verfügung. Alte Rezepte funktionieren nicht mehr. Der Erfolg von gestern sagt rein gar nichts über den Erfolg von morgen aus. Die wichtigste Fähigkeit, die ein Unternehmen von nun an braucht, ist die konstante Bereitschaft zum Umdenken und Andersmachen.
Überall auf der Welt definieren Visionäre gerade das Mögliche neu. Disruptiv vernetzen sie die virtuelle mit der realen Welt auf kühne, bahnbrechende Weise. Sie erwirtschaften Megaumsätze mit Technologien, die es vor wenigen Jahren nicht gab. Mit hohem Tempo besetzen sie die Geschäftsfelder der Zukunft.
Dies wird ganze Industrien verändern – und Chancen neu verteilen. Nur die wendigen, flinken, pfiffigen, jederzeit anpassungsfähigen Marktplayer mit fortschrittlichen, unverbrauchten, marktrelevanten Ideen werden das überleben. Und es braucht viele solcher Ideen. Denn nur, wer viel würfelt, der würfelt am Ende auch Sechser.
Konvergent oder divergent? Eine Frage des Mindsets
Wandel und Innovationen entstehen, wenn jemand sich von herkömmlichen Vorgehensweisen löst und neue, ungewohnte Wege geht. Ob und wie das gelingt, hängt im Wesentlichen mit der Art des Denkens und Handelns zusammen, die im Unternehmen vorherrscht: konvergent oder divergent. Hier sind die Unterschiede:
- Konvergentes Denken beschreibt das eingleisige, lineare, analytische, rationale Denken in üblichen Bahnen und bekannten Routinen. Konvergent Denkende lieben klar definierte Abläufe und strukturierte Verfahrensweisen. Sie können sich schlecht auf andere als die von ihnen vertretenen Sicht- und Handlungsweisen einlassen. Konträre Vorschläge können sie nur widerwillig als die besseren Lösungen akzeptieren. Typisch für sie ist zudem, dass sie schablonenhaft nur eine begrenzte Anzahl an Optionen sehen. Oft sind es sogar nur zwei: entweder/oder.
Im Tagesgeschäft werden Punktlandungen auf Planvorgaben gefordert. Methodenhörigkeit, Prozessbesessenheit und Engstirnigkeit sind die Folge. All das führt zu statischen Unternehmen, die von konvergenten Mindsets bevölkert sind. Dies wiederum lockt konvergente Geister an, die in ihrer Komfortzone verharren, jenem Bereich, in dem sie wissen, was sie tun und was sie erwartet. Da fühlen sie sich sicher, weil es keine grösseren Überraschungen gibt. Doch in einer Zukunft voller Ungewissheit ist solches Denken und Handeln fatal.
- Divergentes Denken bedeutet, sich aufgeschlossen, unsystematisch, mehrgleisig und experimentierfreudig mit einer Sache auseinanderzusetzen. Typisch für divergent Denkende ist, dass sie gewohnte Pfade verlassen, mit gängigen Vorstellungen brechen, in alle Richtungen blicken, über den Tellerrand schauen und um die Ecke denken. Sie möchten Hintergründe erkennen und Zusammenhänge verstehen. Sie sind neugierig und lernwillig, haben einen wachen Geist und eine schnelle Auffassungsgabe. Sie lösen sich von alteingesessenen Mustern und verknüpfen Bekanntes mit Neuem. So kommt eine Vielzahl origineller, überraschender, frischer, frecher, unkonventioneller Ideen zustande.
Divergent Denkende haben meist mehrere Optionen parat – sie suchen danach und finden sie auch. Denn sie wissen: Oft gibt es mehr als einen Weg zum Ziel. «Sowohl-als-auch» ist ihre Devise. Sie lassen sich wertfrei und tolerant auf den Dialog mit anderen ein. Unterschiedliche Sichtweisen und neue Erkenntnisse sind für sie anregend und lehrreich. Ihr Kreativpotenzial ist hoch. Allerdings sind sie auch sprunghaft. Insofern können sie sich leicht verzetteln, vor lauter Ideen ins Chaos geraten und das Ziel aus den Augen verlieren. Deshalb muss man darauf achten, dass sie sich im Eifer des Gefechts nicht verrennen.
Die Unterscheidung zwischen konvergentem und divergentem Denken geht auf den Intelligenzforscher Joy Paul Guilford zurück. Konvergentes Handeln ist typisch für pyramidal strukturierte Organisationen. Um aber in Zukunft erfolgreich zu sein, ist Divergenz unerlässlich. Es sollte einem Unternehmen geradezu Angst machen, wenn Meinungsvielfalt und forsches Hinterfragen erlöschen.
Divergenz ist systemerweiternd, dynamisierend und erneuernd. Divergente sind wissensdurstig, offen für Alternativen und vielseitig interessiert. Sie beobachten, fragen nach und hören zu. Sie tanzen aus der Reihe und brechen mit üblichen Denkmustern. Insofern sind sie wichtige «Störer». Über alle Abteilungsgrenzen hinweg entwickeln sie Initiativen, die Ideen, Wissen und Können neu miteinander verknüpfen.
Lässt die Firma divergentes Handeln überhaupt zu?
Solches Denken und Handeln kann aber nur dort entstehen, wo es den passenden Nährboden gibt: die Erlaubnis zum Widerspruch, eine ergebnisoffene Lernkultur und Freiraum zum Experimentieren. Zudem braucht es Menschen, die sich als Vorreiter und Pioniere mit Mut, Biss und Tatendrang ins Neuland wagen. Solche Menschen werden Querdenker, Freigeister oder auch Game Changer und Corporate Rebels genannt.
Gerade die ambitionierten internen Innovatoren haben oft einen Riecher für Chancen am Markt. Geben Sie diesen Personen und ihren anfangs oft vagen Vorstössen die Möglichkeit zur freien Entfaltung. Dies braucht zunächst Offenheit. Freigeister reden Klartext, wenn sie Verfahrensweisen aufgespürt haben, die aus der Zeit gefallen sind. Sie brandmarken alles, was für Kollegen und Kunden eine Zumutung ist. Selbst «heilige Kühe» packen sie bei den Hörnern. Man müsste sie also eigentlich feiern.
Doch in den meisten Firmen sind Andersdenkende nicht erwünscht. Man hat sie fortgejagt, kaltgestellt, kleinmütig gemacht. Oder man lässt sie gar nicht erst ins Unternehmen hinein. Bereits im Bewerbungsprozess werden sie vorsorglich aussortiert, wenn sie mangelnden Konformismus zeigen. Der, der sich dem firmeninternen Verhaltensprotokoll widersetzt, hat mit Vergeltungsmassnahmen zu rechnen. Hingegen wird Verfahrenstreue im Jahresgespräch ausdrücklich gewürdigt.
Wer seine Arbeit «at target, on budget, in time» erledigt, wird mit Boni und anderen Goodies belohnt. Eine Führungskraft mag es durchaus praktisch finden, wenn sie Mitarbeitende hat, die sich nicht gross widersetzen. Doch genau das führt am Ende ins Aus. Würden die Unternehmen ihren klugen Freigeistern grössere Freiheiten geben und eine konstruktive Querdenkerkultur etablieren, täten sie sich mit dem Sprung in die Zukunft ausserordentlich leicht.
So schaffen Sie Zeit und Raum für Innovationen
«Eigenzeit» zwecks Fortentwicklung kreativer Gedanken ist unglaublich wichtig. Denn in der Hektik des Tagesgeschäfts ist meist keinerlei Platz, sich ausgiebig mit der Zukunft des Unternehmens zu befassen. Gestatten Sie Ihren Freigeistern also zum Beispiel, dass sie für eine Dauer von vier bis sechs Wochen freitags nach 14 Uhr an ihren eigenen Projekten arbeiten dürfen. Lassen Sie sie in dieser Zeit unbehelligt, verlangen Sie auch keine Zwischenberichte. Am Ende der festgelegten Periode sollen sie unternehmerisch sinnvolle Vorschläge für das weitere Vorgehen machen.
Bei Gore, unter anderem Hersteller von Gore-Tex, nennt man dieses Konzept die «Steckenpferdzeit». Von vielen Unternehmen aus der Digitalwirtschaft sind ähnliche Initiativen bekannt. So hat Google mit der 20-Prozent-Spielzeit Furore gemacht. In dieser Zeit durften die Mitarbeitenden an Projekten arbeiten, die sie ganz persönlich interessierten. «50 Prozent aller neuen Google-Produkte kamen aus dieser 20-Prozent-Zeit», berichtete Marissa Mayer, die bei Google federführend tätig war, anlässlich einer Vorlesung an der Stanford University.
Auch der Softwarehersteller Adobe fördert Innovationen. Dazu wurde ein Tool namens Kickbox entwickelt, mit dem Adobe seine Mitarbeitenden zu Erfindern macht. Das Konzept wurde von etlichen Firmen übernommen, so auch von der Swisscom. Diese hat das Programm weiterentwickelt und eine eigene Online-Interpreneurship-Plattform geschaffen. Jeder Mitarbeitende, der eine zündende Idee hat, kann sich für eine Kickbox bewerben. In der physischen Schachtel sind Tipps, wie man einen Innovationsprozess startet, ein Startguthaben, ein Zeitbudget und weiterführende Kontakte zu internen und externen Innovationsexperten. In einem mehrstufigen Prozess wird die Idee dann vorangetrieben und im besten Fall entstehen so eigenständige Spinoffs.