Wissenschaft und Praxis

Community of Science und Community of Practice – zwei Welten? (2)

Im Rahmen des Forschungsprojekts zum Thema Diskrepanz zwischen Wissenschaft und Praxis an der Universität Zürich hat sich eine Studentengruppe zum Ziel gesetzt zu untersuchen, ob die nachgewiesene Diskrepanz zwischen Erkenntnissen der Wissenschaft und Handeln der HRM-Praxis auf Unterschieden zwischen den Lagern – der Community of Science und der Community of Practice – beruht. Die Ergebnisse dieser Gruppenarbeit resümiert die Autorin für HR Today.

Der Fragestellung näherten wir uns auf zwei Ebenen: Zum einen verglichen wir die institutionellen Ebenen der beiden Lager, repräsentiert durch die jeweils bestehenden Ziele und Restriktionen. Und zum anderen wollten wir mögliche Unterschiede oder Gemeinsamkeiten auf der individuellen Ebene aufdecken, d.h. hinsichtlich der Motive und Handlungsweisen der den beiden Lagern angehörenden Personen.

Um die institutionelle Ebene näher zu betrachten, führten wir eine qualitative Dokumentenanalyse durch. Hierbei untersuchten wir die auf den Homepages veröffentlichten Leitbilder, Geschäftsberichte u.ä. von fünf wissenschaftlichen Einrichtungen (Universitäten Zürich, Bern, Basel, St. Gallen und ETH Zürich) und fünf Schweizer Grossunternehmen (Credit Suisse Group, Swiss Casinos Holding AG, Mövenpick Restaurants & Dienstleistungen AG, Trisa AG und Charles Vögele Gruppe). Als Vorlage zur Auswertung dieser Dokumente diente ein Vergleichsprofil, welches die jeweiligen Ausprägungen ausgewählter Kriterien zu Zielen und Restriktionen darstellt.

Die individuelle Ebene untersuchten wir mit Hilfe telefonisch durchgeführter, qualitativer Experteninterviews. Hierzu stellten wir fünf Professoren aus dem Human-Resource-Bereich der oben genannten Universitäten sowie fünf HR-Verantwortlichen aus den oben genannten Schweizer Grossunternehmen teils offene, teils geschlossene Fragen. Ziel war es, durch die Aussagen der sorgfältig ausgewählten Experten ein erstes Meinungsbild zu generieren.

Institutionelle Ebene – Dokumentenanalyse

Um die Ziele genauer zu analysieren, bildeten wir konkrete Unterziele zu den folgenden vier Hauptkategorien: Finanzielle Ziele, Marktposition und -wachstum betreffende Ziele, Technologie und Innovationskraft betreffende Ziele und strategische Ziele (vgl. Abbildung 1).

Ein klar ersichtlicher Unterschied zwischen den beiden Communities zeigt sich in der finanziellen Zielsetzung. Universitäten streben nicht hauptsächlich nach einer Gewinnmaximierung. Sie sind öffentlich-rechtliche Anstalten, «deren Ertrag primär der Existenz- und Entwicklungssicherung dient»(1) und deren Lehr- und Forschungsportfolio «effizient und kostenbewusst strukturiert»(2) ist. Im Gegensatz dazu stellt die Gewinnorientierung für Unternehmen ein wichtiges zu verfolgendes Eigeninteresse dar.

Effizienz bildet allerdings für beide Communities ein wichtiges Ziel. Betrachtet man Marktposition und Marktwachstum, so ist besonders bei den Kooperationen ein grosser Unterschied zu finden. Hochschulen befürworten Kooperationen, denn sie dienen der gemeinsamen Nutzung von Kompetenzen, um das Lehr- und Forschungspotenzial zu erweitern. Hingegen nehmen Unternehmen eher Abstand. Eine weitere wesentliche Gemeinsamkeit zeigt sich in der internen Personalentwicklung, die jeweils sehr hoch ausgeprägt ist. Strategische Ziele liegen bei den Universitäten deutlich im Bereich der Differenzierung. Bei den befragten Unternehmensvertretern gab es diesbezüglich kein eindeutiges Ergebnis.

Auch für die Restriktionen bildeten wir fünf Kategorien (branchenspezifische, finanzielle, personelle, organisationsstrukturelle und unternehmenskulturelle Restriktionen) mit jeweiligen Untergruppen, welche in Abbildung 1 ersichtlich sind. Ein klarer Unterschied zeigt sich im Regulationsniveau. Da Universitäten als öffentlich-rechtliche Institutionen auch gegenüber der Trägerschaft eine Rechenschaftspflicht erfüllen müssen, gibt es massive gesetzliche Bestimmungen. Die Unternehmen hingegen sind von weniger scharfen gesetzlichen Bestimmungen betroffen, wobei es hier auch je nach Unternehmensform unterschiedliche Ausmasse gibt. Die finanziellen Restriktionen zeigen auf, dass in der Praxis ein «Zwang» zur Rentabilität besteht, denn nur so können die Unternehmen überleben. Universitäten unterliegen diesem ‹Zwang› nicht. In der Organisationsstruktur wie auch in der Unternehmenskultur zeigen beide «Lager» Ähnlichkeiten. Im Bereich Marktauftritt und Kommunikation richtet sich die klassische Werbung der Unternehmen an die Konsumenten, die Universitäten hingegen setzen v.a. auf einen anhaltenden Informationsaustausch mit der Gesellschaft.

Individuelle Ebene – Experteninterview

Nach den vorhandenen Anreizsystemen befragt, behaupteten Wissenschaftler, die intrinsische Motivation sei für sie wichtiger als für die Praktiker. Werden die Vertreter beider Lager jedoch aufgefordert, verschiedene Motive nach ihrer Wichtigkeit zu bewerten, so ergeben sich keine bedeutenden Unterschiede (vgl. Abbildung 2). Einzig die Beziehung zu den Vorgesetzten wird von Praktikern als wichtiger eingestuft. Dies ist nicht verwunderlich, da die meisten Wissenschaftler angaben, keine Vorgesetzten im eigentlichen Sinne zu haben.

Nach immateriellen Anreizen befragt, gaben alle Wissenschaftler an, dass diese sehr wichtig sind, beispielsweise in Form interessanter Forschungsthemen. Bei den Praxisvertretern dagegen spielen materielle Anreize wie Boni eine bedeutende Rolle. Die erfragten wichtigsten Werte und Normen zeigen wiederum eine entscheidende Gemeinsamkeit. Beide Gruppen stützen sich auf Zuverlässigkeit, Integrität, Genauigkeit und Vertrauenswürdigkeit.

Abbildung 3 zeigt die Einschätzung verschiedener Handlungsweisen nach ihrer Relevanz, wobei die Wichtigkeit der Weitergabe des Wissens in Form von Publikationen für Wissenschaftler offensichtlich wird. Dies sei nach eigener Aussage der eigentliche Sinn ihrer Arbeit.

In der Praxis wie in der Wissenschaft spielt spezifisches Wissen eine grosse Rolle. Bei den befragten Unternehmen kommt es zur internen und auch zur externen Aus- und Weiterbildung der Mitarbeitenden. Die Wissenschaftler betonen die Weiterbildung als Learning-by-doing-Prozess im Rahmen der Forschung, aber auch externe Veranstaltungen werden genutzt. Nach einer Mitgliedschaft in Netzwerken befragt, gaben beide Lager an, in Netzwerken zu interagieren, wobei es bei der Wissenschaft zu einer regeren Tätigkeit kommt. In der Praxis besteht die Zusammensetzung dieser Netzwerke vorwiegend aus Berufskollegen, also aus Praxisvertretern. In der Wissenschaft gibt es sowohl rein wissenschaftliche als auch gemischte Netzwerke mit Praktikern. Auch Evaluationen finden in beiden Bereichen statt, allerdings in unterschiedlicher Form. In der Praxis geschieht dies über Mitarbeitenden- und Vorgesetztenbefragungen sowie über Eigenanalysen. In der Wissenschaft kommt es hauptsächlich zur Beurteilung durch Experten, sogenannten Peers. 

Als wir die Vertreter ganz allgemein zu den wahrgenommenen Gemeinsamkeiten befragten, so sahen sie die Disziplin, also das HRM, und den Aspekt der Problemlösung als wesentlich. «Beide haben Theorien, beide haben ihre Praxis (…). Der Wissenschaftler hat wissenschaftliche Theorien, der Praktiker hat seine Alltagstheorien.»(3) Unterschiede wurden von den Praktikern besonders zwischen dem abstrakten Denken der Wissenschaftler und dem realitätsnahen Handeln der Praxis gesehen. Wissenschaftler suchen optimale Lösungen, die von den Praktikern als «Wunschdenken» gesehen werden. Hingegen suchen Praktiker eine umsetzbare Lösung, um vom Ist-Zustand zu einem konkreten Ziel zu gelangen. Während die befragten Wissenschaftler Praktiker eher als gegenwartsorientiert und deren Handlungsweise als einfach und reduziert einschätzten, bezeichneten sie sich selbst als  zukunftsorientiert und ihre Handlungsweisen als kompliziert.

Subjektiv antworteten letztlich beide Seiten, dass die Community of Science und die Community of Practice unterschiedliche Weltbilder hätten und daher wie zwei unterschiedliche Welten seien.

Die Diskussion der Ergebnisse 
fördert Überraschendes zutage

Bezüglich der intrinsischen oder extrinsischen Motivation können bei den befragten Personen die von den Wissenschaftlern vorab unterstellten Unterschiede nicht festgestellt werden. Der Unterschied liegt vielmehr in der Art und Weise, wie die jeweiligen Anreize in der Community gegeben sind. So steht in der Praxis bezüglich der extrinsischen Anreize klar das Finanzielle im Vordergrund, während dieser Anreiz bei den Wissenschaftlern eher über die Reputation gegeben ist.

Einen interessanten Aspekt bildet die Art der Evaluation. Wissenschaftler müssen sich vor Experten rechtfertigen, haben dann allerdings kaum Mühe, einen abstrakten Artikel zu publizieren, der an den Bedürfnissen der Praxis vorbeigeht. HR-Verantwortliche müssen sich jedoch vor dem Management, welches in diesem Bereich oft aus Fachlaien besteht, für ihre Projekte rechtfertigen. Es geht dabei nicht um wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern um den Beweis der erfolgreichen Umsetzung und den Added Value neuer Ideen. Dies führt nach Aussagen der Praktiker oft zur Verzögerung und zu Kompromisslösungen.

Zu erkennen war weiterhin, dass sich Wissenschaftler in ihrer Forschungstätigkeit eher an den Problemen der Praxis orientieren, als sich Praktiker an wissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren. Die Praxisorientierung der Wissenschaft entsteht im Falle der Finanzierung durch Drittmittel sozusagen «zwangsweise». Mehrfach wurde von Vertretern beider Lager geäussert, dass der Austausch zwischen den Communities wünschenswert sei und eine Bereicherung für beide Seiten darstellen würde, denn nur so könne die wissenschaftliche wie auch die praktische Relevanz von Problemen erkannt und vereint werden.

Unerwartet grosse Ähnlichkeiten
zwischen den beiden Communities

Insgesamt kann festgehalten werden, dass subjektiv grosse Unterschiede zwischen den beiden Lagern wahrgenommen werden. Das Abweichen des Handelns der Praktiker von den Handlungsempfehlungen der Wissenschaftler könnte demnach auf den ersten Blick sehr wohl auf Unterschiede in den beiden Lagern zurückzuführen sein. Nachdem wir jedoch die Lager einander gegenübergestellt haben, kommen wir zum Schluss, dass die wahrgenommene Diskrepanz grösser ist als die tatsächlich existierende – überraschenderweise kamen häufiger als erwartet grosse Ähnlichkeiten zum Vorschein.

Um zu einer verbesserten Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis – und damit zur Reduktion der Diskrepanz – beizutragen, sollten daher die wahrgenommenen Unterschiede reduziert werden. Hierzu können insbesondere persönliche Kontakte zu Vertretern des jeweils anderen Lagers, persönliche Erfahrungen im anderen Lager sowie Forschungsarbeiten wie diese, die über die Gemeinsamkeiten informieren, dienlich sein. Wir möchten jedoch darauf aufmerksam machen, dass aufgrund unseres methodischen Vorgehens die Ergebnisse unserer explorativen Studie kein statistisches Abbild der Wirklichkeit bieten, sondern als ein erstes Meinungsbild der untersuchten Thematik zu verstehen sind. Daraus ergibt sich eine Forderung an die Wissenschaft nach einer Folgestudie, die sich mit der Gewinnung repräsentativer Daten bezüglich der Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beiden Lager befasst.

  • (1) Strategiebericht Universität Bern, 2006, S. 8
  • (2) Strategiebericht Universität Basel, 2007, S. 9
  • (3) Zitat eines befragten Wissenschaftlers

Quellen:

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Manuela Bartel

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