Empirische Evidenz für die Diskrepanz zwischen Wissenschaft und Praxis (1)
Als erstes von sechs konkreten Untersuchungsergebnissen im Rahmen eines Forschungsprojekts der Universität Zürich, die HR Today bis September vorstellt, beschreiben fünf Studierende ihre qualitative Analyse thematischer und inhaltlicher Aspekte von HRM-Fachzeitschriften im Vergleich.
Dieser Artikel beschäftigt sich mit der Frage, ob sich die bereits belegte Diskrepanz zwischen Wissenschaft und Praxis in einer Diskrepanz zwischen wissenschaftlichen und praxisorientierten Zeitschriften niederschlägt. Mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse wurden Artikel von je drei wissenschaftlichen und praxisorientierten HRM-Fachzeitschriften untersucht. Als Erstes wurden 1440 Artikel bezüglich ihrer HRM-Thematik analysiert. In einem weiteren Schritt wurden 33 Artikel zum Thema Leadership inhaltlich genauer betrachtet. Bezüglich der behandelten HRM-Thematiken wurden nur marginale Unterschiede festgestellt. Im Rahmen der Detailanalyse des speziellen Themas Leadership wurden jedoch einige Diskrepanzen ersichtlich.
Problemstellung
In einer kürzlich veröffentlichten Studie(1) wurden Akademiker und Nicht-Akademiker zu einer möglichen Lücke zwischen Forschung und Praxis befragt. Die Befragten erkannten eine Lücke und nahmen dies als grosses Problem wahr. Die «Forschungs-Praxis-Lücke» ergibt sich aus zwei distinkten Problembereichen. Einerseits wird darauf hingewiesen, dass Forscher zu wenig relevante Fragestellungen behandelten und andererseits die Forschungsthemen nicht praxistauglich kommunizierten.(2)
Für die Untersuchung einer möglichen Diskrepanz von Wissenschaft und Praxis ist eine Analyse der jeweils im Fokus stehenden Themenbereiche von übergeordnetem Interesse. So kann auf Grund der behandelten Themenschwerpunkte in wissenschaftlichen und praxisorientierten Journals untersucht werden, ob sich Wissenschaft und Praxis mit ähnlichen Problemstellungen auseinandersetzen. Des Weiteren können Themenbereiche auf ihre inhaltliche Argumentation und Schwerpunktsetzung hin untersucht werden.
Aus diesen Überlegungen leiteten wir folgende Forschungsfragen ab: Besteht zwischen wissenschaftlichen und praxisorientierten Journals eine thematische Diskrepanz bezüglich spezifischer HRM-Teilbereiche?
Gibt es inhaltliche Unterschiede zwischen den Journals im Themenbereich Leadership?
Thematische Diskrepanz
Die thematische Diskrepanz wurde anhand der folgenden sechs Themenbereiche des HRM untersucht(3):
- Entwicklung bzw. Qualifizierung
- Gestaltung Anreizsysteme, vor allem Belohnung/Arbeitsgestaltung
- Beurteilung
- Beschäftigung (Gewinnung, Integration, Freisetzung)
- Strategieentwicklung und -implementierung
- Personaladministration
Diese Kategorien beziehen sich ausschliesslich auf einzelne Unternehmen. Da sowohl wissenschaftliche als auch praxisorientierte Journals auch ausserbetriebliche Themen behandeln, wurden Kategorien hinzugefügt, die über ein Unternehmen hinaus anwendbar sind. Dazu wurde auf drei Begriffe zurückgegriffen, die im Modell von Thommen(4) die Aussenwelt des Unternehmens beschreiben:
•
Markt •
Gesellschaft •
Ökosystem
Artikel, die thematisch keiner der beschriebenen Kategorien zugeordnet werden konnten, wurden zur Kategorie «Andere» zusammengefasst.
Inhaltliche Diskrepanz
Die inhaltliche Diskrepanz zwischen wissenschaftlichen und praxisorientierten Zeitschriften wurde am Beispiel des Bereichs Leadership untersucht. Die Kategorien wurden dabei ausgehend vom Datenmaterial gebildet.
Methode
Stichprobe Zeitschriften/Artikel
Um eine Artikelstichprobe zu definieren, wurde zuerst eine Liste an HRM-Zeitschriften für Praxis und Wissenschaft auf Basis von elektronischen Datenbanken, Internet und Bibliothekskatalogen zusammengestellt. Zeitschriften mit einem klaren Fokus auf eine Region und Zeitschriften mit einem psychologischen Hintergrund wurden von der Stichprobe ausgeschlossen.
In einem weiteren Schritt wurden Kriterien entwickelt, mit denen die Zeitschriften in praxisorientierte und wissenschaftliche Zeitschriften eingeteilt wurden (vgl. Tabelle 1).
Aus den als wissenschaftlich eingeteilten Zeitschriften wurden mit Hilfe eines Rankings der Universität Wien(5) drei Zeitschriften ausgewählt. Die Selektion der drei praxisorientierten Zeitschriften erfolgte auf Grundlage einer am HRM-Lehrstuhl der Universität Zürich publizierten Liste(6). Die definitive Stichprobe für die thematische Analyse, bestand aus folgenden Zeitschriften (vgl. hierzu Tabelle 2):
Bei der inhaltlichen Analyse der Artikel zum Thema Leadership wurden die Artikel der Zeitschriften Personal, International Journal of HRM, HR Today und Human Resource Management Review untersucht, welche die Stichworte Führung, Leadership oder Management im Titel beinhalteten.
Datenanalyse
Die Daten wurden mittels der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring(7) aufbereitet. Bei der Analyse der thematischen Diskrepanz wurden jeweils systematisch die Titel, Abstracts oder der gesamte Text der Artikel gelesen und anschliessend kategorisiert gemäss der erwähnten thematischen Kategorien. Zur inhaltlichen Diskrepanz haben sich durch Einlesen folgende Kategorien als sinnvoll herausgestellt: vgl. Tabelle 3.
Bei den Artikeln zu Leadership wurden jeweils Titel, Abstract und Handlungsanweisung sowie der Methodenteil (sofern vorhanden) gelesen.
Ergebnisse
Abbildung 1 zeigt die Ergebnisse der Thematikanalyse in einer Übersicht.
Es zeigte sich, dass die HRM-Bereiche sowohl bei den wissenschaftlichen als auch bei den praxisorientierten HRM-Zeitschriften gleich stark oder schwach behandelt werden. Es ergaben sich nur marginale Unterschiede hinsichtlich der Differenzen in der Themenbehandlung beider Zeitschriftentypen. Beide finden ihren Fokus im Bereich Gesellschaft und Strategieentwicklung sowie Implementierung. Die Kategorie Andere setzt sich aus folgenden Bereichen zusammen: vgl. Abbildung 2. Auch hier zeigt sich, dass sich die Zeitschriften in der Kategorie Andere thematisch nur marginal voneinander unterscheiden.
Die inhaltliche Untersuchung der Zeitschriften im Bereich Leadership ergab folgende Ergebnisse: vgl. Abbildung 3. Die praxisorientierten Zeitschriften zeigen einen eindeutigen Fokus ihrer Forschungsmethode im Bereich deskriptiver Einzelfälle. Hingegen zeigen die wissenschaftlichen Zeitschriften ihren Fokus auf der erklärenden und zugleich repräsentativen Forschungsmethode.
Die Ergebnisse zum Fokus der Aussagen sehen wie folgt aus: vgl. Abbildung 4. Während praxisorientierte Zeitschriften eher Themen behandeln, die für ein gesamtes Unternehmen (Organisation) relevant sind, wird in wissenschaftlichen Zeitschriften über individuelle und gruppenbezogene Themen geschrieben (beispielsweise über Führungsstile, Arbeitszufriedenheit oder ähnliche Themen).
Die praxisorientierten Zeitschriften geben eher praktische Handlungsanweisungen. Jedoch vermischen sich diese zu einem Grossteil auch mit Forschungsanweisungen. Die wissenschaftlichen Zeitschriften zeigen vermehrt Anweisungen im Sinne von Forschungsanweisungen.
Diskussion
Die eingangs gestellte Forschungsfrage «Besteht zwischen wissenschaftlichen und praxisorientierten Journals eine thematische Diskrepanz bezüglich spezifischer HRM-Teilbereiche?» kann anhand der vorliegenden Ergebnisse nicht bejaht werden. Die verschiedenen Journals unterscheiden sich hinsichtlich der behandelten Thematik nur marginal voneinander und haben damit eine ähnliche Themenverteilung. Zum Teil zeigen sich zwischen den Zeitschriften kleine Diskrepanzen. So schreiben wissenschaftliche Zeitschriften häufiger über die Beurteilung als praxisorientierte Zeitschriften, welche wiederum häufiger die Beschäftigung, den Markt und die Personaladministration behandeln. Jedoch fallen diese Diskrepanzen bei der Grösse der Stichprobe (1440 Artikel) kaum ins Gewicht. Die Erkenntnis, dass zwischen den Zeitschriften und somit indirekt zwischen den Communities of Practice und Science keine eindeutige Diskrepanz bezüglich behandelter Thematik besteht, erstaunt sehr.
Jedoch wird im zweiten Teil der Studie ersichtlich, dass sie sich inhaltlich voneinander unterscheiden können. Durch die vertiefte Analyse ausgewählter Artikel zum Bereich Leadership wird ersichtlich, dass sich die drei wissenschaftlichen und die drei praxisorientierten Journals in der Behandlung dieses Themas stark unterscheiden. So zeigen die verschiedenen Zeitschriften Differenzen in der Methodik sowie im Fokus der Aussagen und der Handlungsempfehlungen. Die wissenschaftlichen Artikel beruhen meistens auf einer repräsentativeren Methodik als die praxisorientierten Artikel. Letztere fokussieren auf die Organisation, welche sie vor allem als Einzelfall deskriptiv untersuchen; dadurch werden die Ergebnisse weniger repräsentativ.
Bei den Wissenschaftlern liegt der Untersuchungsschwerpunkt hingegen auf dem Individuum und den Gruppen. Dass bei den Handlungsanweisungen die Praktiker vor allem praktische, die Wissenschaftler hingegen meistens Forschungsanweisungen geben, ist nicht erstaunlich. Jedoch geben die Wissenschaftler und die Praktiker oft Handlungsanweisungen, die sowohl praktisch als auch wissenschaftlich sind. Dies lässt auf einen Schnittpunkt zwischen Praxis und Wissenschaft schliessen. Die Praktiker geben dabei an, was sie von der Wissenschaft gerne untersucht hätten. Die Wissenschaftler geben den Praktikern Handlungstipps, die ihrem Forschungsstand nach sinnvoll wären. Ob diese Anregungen jeweils von der Gegenseite aufgenommen werden, müsste in einer weiteren Studie geklärt werden.
Quellenverzeichnis:
- (1) Shapiro u.a., ausführliche Angaben im Literaturverzeichnis weiter unten
- (2) Vgl. Shapiro u.a., S. 249-266
- (3) Vgl. Benzikofer, S. 43-44
- (4) Vgl. Thommen, S. 19-27
- (5) Vgl. Universität Wien, Internet-Abfrage 5.10.2007
- (6) Vgl. Zeitschriften am Lehrstuhl HRM Zürich, Internet-Abfrage 5.10.2007
- (7) Vgl. Mayring
Literaturverzeichnis
- Brenzikofer, B.: Reputation von Professoren – Implikationen für das Human Resource Management von Universitäten, in: Personalwirtschaftliche Schriften, Band 19, München und Mering (2002).
- Forschungsfrage Lehrstuhl HRM Zürich (2007): http://www.hrm.unizh.ch/03_studium/veranstaltungen/hrm_1/hrm_1.htm ( Abfrage 27.11.2007).
- Lehrstuhl HRM Zürich: http://www.hrm.unizh.ch/03_studium/veranstaltungen/hrm_1/hrm_1.htm (Abfrage 2.10.2007).
- Mayring, P.: Qualitative Inhaltsanalyse, Weinheim und Basel (2007).
- Shapiro, D. L., B. L. Kirkman, u.a..: Perceived causes and solutions of the translation problem in management research, in: Academy of Management Journal, 50(2), S. 249–266 (2007).
- Thommen, J. P.: Glaubwürdigkeit und Corporate Governance, S. 19–27, Zürich (2003).
- Universität Wien: http://bach.wu-wien.ac.at/bachapp/cgi-bin/fides/fides.aspx?journal=true… (Abfrage 5.10.2007).
- Zeitschriften am Lehrstuhl HRM: http://www.hrm.unizh.ch/05_services/literatur.htm (Abfrage 5.10.2007).