Wissenschaft und Praxis

Entscheidungsprozesse der Praktiker auf dem Prüfstand der Rationalität (4)

Ist die (Ir-)Rationalität der Praktiker eine mögliche Ursache für die Diskrepanz zwischen Wissenschaft und Praxis? Diese Frage wird im vierten Teil unserer Serie über das Forschungsprojekt an der Universität Zürich untersucht. Die Ergebnisse der Studentengruppe zeigen unter anderem, dass die Praktiker sich oft in einer ganz eigenen Realität bewegen.

Unsere Gruppe stellte die Frage in den Mittelpunkt, ob die vielfach belegte Diskrepanz zwischen den Erkenntnissen der Wissenschaft und dem Handeln der Praxis auf irrationales Verhalten der Praktiker zurückzuführen sei. Stimmten die Praktiker mit den Wissenschaftlern darin überein, dass wissenschaftsgemässes Handeln dem Unternehmenserfolg zuträglich ist, könnte man ihr Verhalten irrational nennen, falls sie ohne ersichtlichen Grund dennoch nicht demgemäss handelten. Doch was ist rationales Handeln?

Theoretischer Ansatz und empirische Untersuchung

Mittels zweier Leitfragen gingen wir unser Forschungsprojekt an: Zunächst klärten wir, ob die Community of Science und die Community of Practice in ihrem Verständnis von Rationalität übereinstimmen:

  • Was bedeutet das Konstrukt Rationalität für die Wissenschaft und was bedeutet es für die Praxis? Anschliessend untersuchten wir, ausgehend von dem im ersten Schritt herausgearbeiteten Rationalitätsverständnis der Praktiker, folgende zweite Frage:
  • Ist es aus Sicht der Praxis irrational, nicht den Erkenntnissen der Wissenschaft gemäss zu handeln, oder sind die Erkenntnisse der Wissenschaft aus Praktikersicht irrational?

Während wir dem Rationalitätsverständnis der Wissenschaft mit Hilfe theoretischer Konstrukte und Modelle auf den Grund gingen, führten wir zur Ermittlung des Praktikerverständnisses eine empirische Untersuchung durch. Der zweiten Frage führten wir eine rein empirisch fundierte Antwort zu. Wir möchten an dieser Stelle darauf aufmerksam machen, dass die Ergebnisse unserer Studie kein statistisches Abbild der Wirklichkeit bieten können. Sie liefern jedoch ein erstes Meinungsbild der untersuchten Thematik und zeigen Tendenzen auf.

Was bedeutet Rationalität für die Wissenschaft?

Wenn der Praxis mangelnde Rationalität unterstellt wird, gilt es als Erstes die Frage zu klären, was Rationalität heisst. Es zeigt sich schnell, dass weder in der Wissenschaft noch in der Praxis eine allgemeingültige Definition vorherrscht. Vielmehr hat man sich in der Wissenschaft darauf geeinigt, dass die unterschiedlichen Rationalitätsvorstellungen verschiedener Disziplinen und Theorien vor dem Hintergrund des jeweiligen Paradigmas zu betrachten sind (1).

Aus diesem Grund gingen wir auf Seiten der Wissenschaft von verschiedenen  Perspektiven aus, wobei im Folgenden der Rationalitätsbegriff aus der Perspektive Max Webers sowie aus der klassisch entscheidungstheoretischen, der neueren entscheidungstheoretischen sowie der konstruktivistischen  Sichtweise erörtert wird.

Da der Rationalitätsbegriff in einem engen Zusammenhang mit Entscheidungen, deren Rahmenbedingungen und Normen sowie den daraus resultierenden Ergebnissen steht, machen die verschiedenen Modelle und Theorien zudem Aussagen darüber, wie Entscheidungen getroffen werden sollen (klassische normative Entscheidungstheorie) und/oder wie Entscheidungen tatsächlich getroffen werden (neuere Entscheidungstheorie, Konstruktivismus). Dabei steht der Prozess der Entscheidung im Vordergrund, um Rationalität in Bezug auf die Auswahl aus verschiedenen Handlungsalternativen untersuchen zu können. Unter Entscheidung verstehen wir «die (mehr oder weniger bewusste) Auswahl einer von mehreren möglichen Handlungsalternativen» (2). Im Folgenden wird der Rationalitätsbegriff im Kontext von Entscheidungen betrachtet.

Vor allem eine Frage der Perspektive

Abbildung 1 zeigt auf, von welchen Rationalitätsannahmen die verschiedenen Perspektiven ausgehen und welche Konsequenzen dies für die Rationalität einer Entscheidung hat.

Die klassische Entscheidungstheorie, die das Menschenbild des «homo oeconomicus» zu Grunde legt, verkörpert die wohl einflussreichste und bekannteste Sichtweise von Rationalität in Entscheidungen. Grundannahme ist, dass der subjektiv erwartete und mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit behaftete Nutzen Entscheidungen determiniert. Darüber hinaus wird von vollständiger Information ausgegangen und es wird angenommen, dem Entscheidungsträger seien alle Entscheidungsalternativen bekannt und Zeit sowie kognitive Ressourcen stünden uneingeschränkt zur Verfügung (3). Für die weitere Untersuchung wird auf Seiten der Wissenschaft von diesem  Rationalitätsverständnis als Extrempol ausgegangen. Bekanntester Vertreter ist die Erwartungsnutzentheorie, die eine Entscheidung dann als rational erachtet, wenn die Entscheidung den Erwartungswert des individuellen Nutzens maximiert. Gemäss dieser Definition wären Praktiker dann rational, wenn sie die nachgewiesenermassen erfolgssteigernden Erkenntnisse der Wissenschaft verwendeten.

Entscheidungsalternativen werden nicht absolut 
bewertet, sondern in Bezug auf einen Referenzpunkt

Die neuere Entscheidungstheorie ist als Weiterentwicklung der Erwartungsnutzentheorie zu verstehen, indem sie auf Basis empirischer Untersuchungen zu beschreiben versucht, wie Menschen in der Praxis tatsächlich entscheiden, und sich vom Menschenbild des «homo oeconomicus» abwendet. Bekanntester Vertreter dieser theoretischen Richtung ist die Prospect Theory von Kahneman und Tversky. Wie die Erwartungsnutzentheorie geht sie davon aus, dass subjektiv erwarteter Nutzen und Wahrscheinlichkeiten Entscheidungen determinieren. Zusätzlich macht sie aber spezifische Annahmen über die subjektiv-mentale Repräsentation und Verarbeitung von Entscheidungen. Wichtigste Erkenntnisse sind: Entscheidungsalternativen werden nicht absolut bewertet, sondern in Bezug auf einen Referenzpunkt; bei Gewinnen  – vom Referenzpunkt aus gemessen – zeigen Menschen eine Risiko vermeidende Tendenz, bei Verlusten suchen sie jedoch das Risiko; grosse Eintrittswahrscheinlichkeiten werden unterschätzt, mittlere und kleine dagegen systematisch überschätzt.

Die Prospect Theory erkennt in der Irrationalität der Akteure eine Systematik. Folgen Menschen unter gewissen Voraussetzungen und Situationen einer Systematik, können die getroffenen Entscheidungen als rational betrachtet werden. Eine weitere, völlig andere Sichtweise von Rationalität bietet der Konstruktivismus. Nach dieser Perspektive wird Wissen (inter-)subjektiv konstruiert und stellt sich damit einem Wissensbegriff gegenüber, welcher Wissen als ein rationales Gebilde behandelt und Komponenten wie Werte oder Emotionen nicht berücksichtigt. Mit einem eher konstruktivistisch geprägten Wissensbegriff kann nun untersucht werden, welche Faktoren die Konstruktion von Wissen bzw. den Aufbau des Rationalitätsbegriffes beeinflussen. Dabei sind Faktoren wie Emotionen, Werte, Motivation, Erfahrungen, subjektive Theorien, Vorwissen, intersubjektiver Austausch, Kommunikation, situative Faktoren etc. massgebend. Der Rationalitätsbegriff eines Individuums wird dabei einerseits durch das Individuum selbst (wie beispielsweise durch Erfahrungen), andererseits durch seine Umwelt, d.h. situative Umstände und den jeweiligen Handlungskontext, erklärt. Ob nun das Handeln und die Entscheidungen des Praktikers irrational sind, kann nun nicht mehr an einer von aussen definierten Rationalitätsvorstellung gemessen werden, sondern an dem, was aktiv agierende Menschen (inter-)subjektiv als rational empfinden.

Und was bedeutet Rationalität für die Praxis?

Mittels acht qualitativer Interviews erforschten wir explorativ die Sinnstrukturiertheit der Handlungsweisen der Praktiker.  Gestützt auf einen Fragenkatalog als Leitfaden wurden ausgewählte Verantwortungs- und Entscheidungsträger aus dem Bereich Human Resource Management befragt. Der Leitfaden richtete sich an der zuvor erwähnten Forschungsfrage bzw. deren Unterfragen aus.

Das der klassischen Entscheidungstheorie folgende Rationalitätsmodell stellten wir der praktischen Sichtweise gegenüber, die wir aus den Experteninterviews herausfilterten. In Anlehnung an Mayrings Verfahren zur qualitativen Inhaltsanalyse bildeten wir zu jeder Forschungsfrage die wesentlichen theoretischen Kategorien, denen die einzelnen Aussagen der Interviewpartner in tabellarischer Form zugeordnet wurden (siehe Tabelle 1). Grundsätzlich haben die Praktiker ähnliche und ebenso vielfältige Vorstellungen vom Konstrukt Rationalität wie die Wissenschaftler. Insbesondere der «homo oeconomicus» scheint in den Köpfen der Praktiker weit verbreitet zu sein – betont werden hauptsächlich Dimensionen wie Effizienz, Nutzen und Analytik.

Ist das Handeln gemäss wissenschaftlicher Erkenntnis aus Sicht der Praktiker rational oder irrational?

Vor dem Hintergrund des im Rahmen von Frage 1 ermittelten Rationalitätsverständnisses der Praktiker analysierten wir anschliessend, ob die empirisch belegte Nichtanwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse aus Praktikersicht rational ist. Hierzu befragten wir die Experten zunächst direkt, ob sie die Anwendung der Erkenntnisse als rationales Handeln verstehen. Darüber hinaus überprüften wir die Aussagen anhand der zuvor gemachten Angaben zum Begriff der Rationalität auf ihre Schlüssigkeit. Weiter interessierte uns, ob die Praktiker entsprechend ihrer Aussagen handelten. Denn im Sinne des Zitats von Konrad Lorenz ist «gehört (...) nicht verstanden, verstanden ist nicht einverstanden, einverstanden ist nicht umgesetzt, umgesetzt ist nicht beibehalten» (siehe Tabelle 2).

Sechs der Praktiker betrachten zwar die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse als rational, sehen sich aber nicht in der Lage, diese in die Praxis zu übertragen, oder der Wille dazu fehlt. Aus den Schilderungen der Experten lässt sich ableiten, dass sie sich in der konkreten Umsetzung dem unternehmerischen Kontext mit den dazugehörenden Menschen und ihren Erfahrungen anpassen und sich ihre Wirklichkeit und Rationalität selbst konstruieren. Diese Vorgehensweise spricht für einen konstruktivistischen Ansatz der Praktikerrationalität in ihrem Unternehmeralltag.

Zwei unserer Interviewpartner empfinden die Wissenschaft schon von Anfang an zu weit von der praktischen Umsetzung entfernt und verhalten sich gemäss ihrer Einstellung.

Diskussion der Ergebnisse

Aus unserer Arbeit geht hervor, dass es bei Praktikern und Wissenschaftlern grundsätzlich ähnliche Vorstellungen über den Rationalitätsbegriff gibt. Praktiker haben insbesondere mit der Sichtweise der klassischen Entscheidungstheorie kompatible Annahmen; in ihrer Anwendung bzw. Auslegung des Begriffs weisen sie aber eher Ähnlichkeiten mit dem konstruktivistischen Rationalitätsverständnis auf.

Jedoch ist festzuhalten, dass die befragten Praktiker wissenschaftliche Erkenntnisse bzgl. Rationalität unterschiedlich wahrnehmen. Werden wissenschaftliche Erkenntnisse als irrational erachtet, richten Praktiker ihre Handlungen auch nicht danach aus und handeln dementsprechend rational. Werden wissenschaftliche Erkenntnisse hingegen als rational wahrgenommen, weisen die Resultate der Befragung auf eine unterschiedlich konsequente Umsetzung hin. Einerseits werden wissenschaftliche Erkenntnisse als rational empfunden und in der Praxis auch umgesetzt. Dieses Entscheidungsverhalten kann als rational bezeichnet werden.

Andererseits werden wissenschaftliche Erkenntnisse z.T. zwar als rational betrachtet, die Praktiker handeln allerdings nicht demgemäss. Ein solches Handeln kann irrational genannt werden. Teilweise können sie ihr widersprüchliches Verhalten jedoch auch begründen: So werden als Ursache für die Nichtanwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse organisationale sowie strukturelle Gegebenheiten, die die Anwendung verhindern können, genannt. Im Rahmen der Interviews brachten die Praktiker aber auch andere Barrierefaktoren wie Emotionen und persönliche Erfahrungen zur Sprache. Diese Problematik kann mit Hilfe einer konstruktivistischen Sichtweise erklärt werden. Eine solche Sichtweise erklärt, warum Praktiker unterschiedliche Vorstellungen von Rationalität haben. Sie vermag ausserdem aufzuzeigen, dass Praktiker eine gänzlich eigene, wenn auch nicht zwingend alleinige Realität konstruieren, im Rahmen derer sie sich bewegen. Die zu Grunde liegende Definition des Rationalitätsbegriffs ist entscheidend für die Beurteilung der  (Ir-)Rationalität einer Entscheidung.

  • 1Vgl. Scherer, 1999, S. 19.
  • 2Laux, 2005, S. 1.
  • 3 Vgl. Hill u.a., 1998, S. 222 – 223.
  • 4  
Befragt wurden zwei Frauen und sechs Männer in insgesamt sechs qualitativen Interviews. Die Unternehmensgrösse variierte von Kleinunternehmungen mit sieben Mitarbeitenden bis zum Grosskonzern mit 260000 Mitarbeiter weltweit. Trotzdem sind wir uns der mangelnden Repräsentativität bewusst.
  • 5 Vgl. Weber, 1988a I:3; zitiert nach Kieser, 2002, S. 42.
  • 6 
Arbeitsprobe als ein wissenschaftlich anerkanntes Instrument zur Eignungsbeurteilung im Rahmen von Rekrutierungsprozessen.

Quellen:

  • Hill, W./Fehlbaum, R./Ulrich, P.: Organisationslehre 2. 5. Aufl. Haupt 1998, S. 427–432.
  • Kieser, A.: Max Webers Analyse der Bürokratie, in: Kieser, A. (Hrsg.); Organisationstheorien. Kohlhammer 2002, S. 39–64.

  • Laux, H.: Entscheidungstheorie. 6. Aufl. Springer 2005.

  • Scherer, A. G.: Kritik der Organisation oder Organisation der Kritik? Wissenschaftstheoretische Bemerkungen zum kritischen Umgang mit Organisationstheorien, in: Kieser, A. (Hrsg.): Organisationstheorien, S. 1–37.
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