Quellen und Nutzung von wissen schaftlicher Erkenntnis in der Praxis (3)
Im Rahmen des Forschungsprojekts zum Thema Diskrepanz zwischen Wissenschaft und Praxis an der Universität Zürich wurde eine quantitative Untersuchung über Herkunft und Nutzung von Wissen in der Praxis durchgeführt. Die Ergebnisse weisen auf Entwicklungsmöglichkeiten hin, welche die Autoren für HR Today zusammengefasst haben.
Obwohl in diversen Studien bewiesen werden konnte, dass die Anwendung von wissenschaftlichen Erkenntnissen im Bereich HRM den Erfolg eines Unternehmens positiv beeinflusst, werden in der Praxis wissenschaftliche Erkenntnisse nur selten angewandt. Ausgehend von dieser Feststellung machte sich unsere Gruppe auf die Suche nach den Ursachen für diese Diskrepanz: Warum werden wissenschaftliche Erkenntnisse in der Praxis selten angewandt?
Erfolgsrelevantes Wissen kann in der Praxis unterschiedlichen Quellen entnommen werden. Beispielsweise können Informationen und Wissen aus Internetquellen und Fachbüchern verwendet oder anhand von Erfahrungsaustausch generiert werden. Um beantworten zu können, warum wissenschaftliche Erkenntnisse in der Praxis genutzt beziehungsweise eben nicht genutzt werden, stellten wir uns folgende Fragen: Welche Arten von Wissen werden in der Praxis verwendet? Woher wird dieses Wissen bezogen? Aus welchen Gründen werden bestimmte Wissensquellen (insbesondere wissenschaftliche Erkenntnisse) genutzt?
Um Antworten auf diese Fragen zu finden, führten wir eine empirische Untersuchung durch. Als Erhebungsmethode wählten wir einen Online-Fragebogen. Während einige der Fragen des Fragebogens auf theoretischen Erkenntnissen oder Ergebnissen vorausgegangener Studien beruhten, entstanden zahlreiche Fragen in der Diskussion in unserer Forschungsgruppe. Befragt wurden Führungskräfte von Unternehmen sowie Leiter und Mitarbeiter von HR-/Personal-Abteilungen in der Deutschschweiz. 456 Personen wurden per E-Mail eingeladen, an der Umfrage teilzunehmen. Die Mailadressen der kontaktierten Personen wurden per Zufallsauswahl aus Stelleninseraten (Zeitung, Online-Inseraten, Zeitschriften) sowie aus den ZGP-Mitgliedschaften entnommen. Insgesamt nahmen 115 Personen an der Online-Befragung teil, was einer Rücklaufquote von 25,2 Prozent entspricht.
Informationen zu den Studienteilnehmern
Bei diesen zuvor genannten 115 Befragten handelt es sich um berufstätige Personen im Alter zwischen 23 und 64 Jahren, wobei ungefähr gleich viel Frauen (47,8 Prozent) wie Männer (52,2 Prozent) unsere Fragen beantworteten. Etwa ein Viertel (25,4 Prozent) der Studienteilnehmer arbeiten in der Bank- und Versicherungsbranche. Über die Hälfte der Teilnehmenden (54,8 Prozent) ist in Grossunternehmen beschäftigt. Durchschnittlich verfügen die Teilnehmer über 6,3 Jahre Berufserfahrung in ihrem jetzigen Arbeitsbereich.
Ergebnisse
Welche Wissensarten werden in der Praxis verwendet?
Im Arbeitsalltag treffen die Teilnehmer Entscheidungen am häufigsten auf der Basis von eigenen Erfahrungen und Vorlagen des Unternehmens (1). Es werden aber auch wissenschaftliche Erkenntnisse genutzt, um Entscheidungen bei der Arbeit zu treffen (siehe Abb. 1) (2). Rund 53 Prozent der Studienteilnehmenden gaben an, dass die eigenen Erfahrungen bei Entscheidungen am wichtigsten sind, während nur 10,4 Prozent wissenschaftliche Erkenntnisse für wichtig hielten. Damit Informationsquellen im Arbeitsalltag überhaupt berücksichtigt werden, müssen sie nach Ansicht der Studienteilnehmer vor allem praxisorientiert, aktuell und verständlich sein. Dagegen spielt der Kostenaspekt bei der Wahl einer Informationsquelle nur eine geringfügige Rolle (siehe Abb. 2).
Woher wird Wissen in der Praxis bezogen?
Gemäss unserer Studie werden Wissen und Informationen innerhalb des Unternehmens vor allem anhand persönlicher Gespräche, durch «learning on the job» oder über das Intranet erworben (siehe Abb. 3). Interne Wissensquellen werden von den Teilnehmern insbesondere genutzt, weil die Informationen schnell verfügbar, leicht zugänglich und aktuell sind (siehe Abb. 4). Informationen ausserhalb des Unternehmens werden von den Studienteilnehmern häufig über das Internet, aus Fachbüchern/Fachzeitschriften und aus Zeitungen/Zeitschriften bezogen (siehe Abb. 5). Externe Wissensquellen werden vor allem genutzt, um Wissenslücken zu schliessen, weil die Informationen aktuell sind und neue Perspektiven erlangt werden können (siehe Abb. 6).
Aus welchen Gründen werden wissenschaftliche Erkenntnisse in der Praxis genutzt – falls sie genutzt werden?
93,9 Prozent der Studienteilnehmer gaben an, im Arbeitsalltag wissenschaftliche Erkenntnisse zu nutzen, nur 6,1 Prozent der Teilnehmer nutzen wissenschaftliche Erkenntnisse während der Arbeit nie. Die Studienteilnehmenden nutzen wissenschaftliche Quellen, um neue Ideen zu erlangen, sich persönlich weiterzubilden oder aus persönlichem Interesse (siehe Abb. 7). Nach Ansicht der Teilnehmenden sind wissenschaftliche Quellen zeitaufwändig, nützlich und gut zugänglich (siehe Abb. 8).
Welchen Zusammenhang und Einfluss haben bestimmte Merkmale der Studienteilnehmenden auf die Nutzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen?
Um die Gründe für die Nutzung wissenschaftlicher Quellen in der Praxis noch genauer aufzuspüren, haben wir untersucht, welche Merkmale der Studienteilnehmenden im Zusammenhang mit der Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse stehen. Dabei ergaben sich folgende Ergebnisse:
Geschlecht: Männliche und weibliche Studienteilnehmer nutzen wissenschaftliche Erkenntnisse gleich oft (3).
Bildung: Je höher das Bildungsniveau der Studienteilnehmer, desto öfter nutzen sie wissenschaftliche Erkenntnisse im Arbeitsalltag (4).
Berufserfahrung: Je mehr Berufserfahrung die Teilnehmenden besitzen, desto öfter nutzen sie wissenschaftliche Erkenntnisse (5).
Alter: Je älter die Studienteilnehmenden sind, desto öfter nutzen sie wissenschaftliche Erkenntnisse (6).
Des Weiteren untersuchten wir, ob die persönlichen Vorurteile (subjektive Attraktivitätsempfindung) und die Einstellung der Studienteilnehmer gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen einen Einfluss auf deren Nutzung in der Praxis ausüben. Tatsächlich zeigen die Ergebnisse unserer Umfrage, dass wissenschaftliche Erkenntnisse von den Studienteilnehmern vermehrt genutzt werden, wenn sie als attraktiv empfunden werden (7). Zudem nutzen Studienteilnehmer wissenschaftliche Erkenntnisse häufiger, wenn sie ihnen gegenüber positiv eingestellt sind (8).
Diskussion der Ergebnisse
Die Ergebnisse zeigen, dass für die effektive Nutzung einer Informationsquelle in der Praxis vor allem deren Praxisorientierung, Aktualität und Verständlichkeit entscheidend sind.
Bei Wissensquellen ausserhalb des Unternehmens wird das Internet am meisten genutzt. Dies überrascht kaum, da diese Informationsquelle aufgrund ihrer Aktualität und leichten Zugänglichkeit in der heutigen Gesellschaft einen hohen Stellenwert einnimmt. Von Wissensquellen innerhalb des Unternehmens werden das persönliche Gespräch, «learning by doing» sowie das Intranet bevorzugt. Die häufige Nutzung des persönlichen Gesprächs und die interne Wissensgenerierung durch «learning on the job» lassen sich dadurch erklären, dass die Sozialisation, d.h. der Austausch von erlebtem Wissen, für Individuen wichtig ist.
Während Praktiker bei internen Wissensquellen vor allem deren schnelle Verfügbarkeit und die leichte Zugänglichkeit schätzen, stehen bei externen Wissensquellen – zu denen grösstenteils auch wissenschaftlich erarbeitetes Wissen zu zählen ist – vor allem das Schliessen von Wissenslücken und das Eröffnen neuer Perspektiven im Vordergrund. Wissenschaftliche Erkenntnisse im Speziellen werden insbesondere dazu genutzt, neue Perspektiven zu erlangen. Im Arbeitsalltag werden wissenschaftliche Quellen jedoch weniger oft als Entscheidungsgrundlage genutzt als eigene Erfahrungen oder Vorlagen des Unternehmens. Somit kann der Hauptnutzen von wissenschaftlichen Erkenntnissen, aus Sicht der Praxis, im Aufdecken neuer Perspektiven gesehen werden. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden aber auch zur persönlichen Weiterbildung und aus persönlichem Interesse genutzt. Die praktische Relevanz von wissenschaftlichen Erkenntnissen scheint für deren Nutzung eine untergeordnete Rolle zu spielen. Dieses Resultat überraschte uns doch sehr, da es kontrovers zu anderen Studien liegt.
Aus den vorliegenden Ergebnissen könnte die Folgerung gezogen werden, dass wissenschaftliche Erkenntnisse von Praktikern zwar genutzt werden, diese jedoch nur begleitend zu laufenden praktischen Aufgaben hinzugezogen werden, da sie nicht exakt auf das jeweilige Problem zugeschnitten sind. In diesem Sinne ist der Nutzen von wissenschaftlichem Wissen eher langfristig zu sehen, indem durch neu gewonnene Perspektiven einzelner Organisationsmitglieder gewisse Praktiken über die Zeit hinweg (bewusst oder unbewusst) optimiert werden können.
Steigerungspotenzial durch «Brückenbauer» und Internet
Interessante Erklärungsansätze eröffnen sich durch die Zusammenhänge zwischen den Merkmalen der Studienteilnehmer und der Nutzungshäufigkeit von wissenschaftlichen Erkenntnissen. Beispielsweise lässt sich der positive Zusammenhang des Bildungsniveaus mit der Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse durch folgende drei Ansätze erklären: Erstens wäre es möglich, dass höher Gebildete mit wissenschaftlichen Texten vertrauter sind, d.h. sie wissen, wie diese zu lesen sind, und sind daher eher in der Lage, sie zu nutzen. Zweitens wissen höher Gebildete, wo wissenschaftliches Wissen zu suchen und zu finden und wie es zu beschaffen ist. Und drittens wäre es denkbar, dass höher Gebildete wissenschaftliche Dokumente mehr schätzen, weil sie beispielsweise während der Studienzeit selbst wissenschaftliche Arbeiten schrieben.
Ebenfalls interessant ist der Befund, dass mit zunehmendem Alter und zunehmender Berufserfahrung vermehrt auf wissenschaftliche Quellen zurückgegriffen wird. Dies könnte dadurch erklärt werden, dass Praktiker aufgrund positiver Erfahrungen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Jahre hinweg ihre Handlungen und Entscheidungen vermehrt wissenschaftlich abstützen. Denkbar wäre auch, dass sich Praktiker mit zunehmendem Alter vermehrt ihren persönlichen Interessen widmen (Lesen von Fachliteratur als eine Art Selbstverwirklichung) und daher häufiger auf wissenschaftliches Wissen zurückgreifen.
Die Erkenntnis, dass erhöhtes subjektives Attraktivitätsempfinden bezogen auf wissenschaftliche Erkenntnisse und eine positive Einstellung gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen deren Nutzung steigern, zeigt Möglichkeiten auf, wie die Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Praxis erhöht werden kann. Durch geeignete Marketingmassnahmen könnten Wissenschaftler die Einstellung der Praktiker gegenüber der Wissenschaft verbessern und somit die Nutzungswahrscheinlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse erhöhen. Dies könnte durch effizienten Einsatz so genannter «Brückenbauer» zwischen Wissenschaft und Praxis erreicht werden. Grosses Potential bietet dabei das Internet als meistgenutzte externe Wissensquelle. Der Zugang zu den meist kostenpflichtigen wissenschaftlichen Datenbanken sollte den Praktikern einfacher zugänglich gemacht werden.
Die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Praxis ist letztlich für den Erfolg eines Unternehmens entscheidend, womit ein «Mehraufwand» in jedem Unternehmen gerechtfertigt ist.
- 1 Eigene Erfahrungen: Mittelwert (M) = 5.36, Standardabweichung (SD) = .82, Vorlagen des Unternehmens: M = 4.34, SD = 1.36
- 2 M = 3.53, SD = 1.38
- 3 t(115) = -.925, p = .357
- 4 r(114) = .16, p = .044
- 5 r(115) = .17, p = .036
- 6 r(114) = .22, p = .009
- 7 r(115) = .21, p = .013
- 8 r(115) = .44, p = .000