HR Today Nr. 1/2022: Schwerpunkt Weiterbildung – Grundkompetenzen

Jenen geben, die wenig haben

Menschen mit wenig Grundkompetenzen haben es in der Gesellschaft schwer. Arbeitgebende investieren kaum in sie und ein auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenes Bildungsangebot gab es bislang nicht. Mit dem 2017 in Kraft getretenen Weiterbildungs­gesetz sollen sie nun kantonal auf niederschwellige Weise gefördert werden. Ein Gespräch mit Christian Maag, Geschäftsführer des Schweizer Dachverbands «Lesen und Schreiben».

Es ist nichts Neues: Arbeitgebende investieren eher in Gutausgebildete als in Menschen, die Weiterbildung dringend benötigen …

Christian Maag: Das stimmt. Gutausgebildete werden wesentlich stärker gefördert als Menschen mit geringer Bildung. Dass jenen mehr gegeben wird, die schon viel haben, zeigen auch Statistiken. Die Frage ist, ob diese Strategie mit Blick auf die steigenden Kompetenzanforderungen am Arbeitsplatz und dem Fachkräftemangel immer noch geeignet ist.

Inwiefern sind Arbeitgebende verpflichtet, Geringqualifizierte zu fördern?

Es lohnt sich, Angestellte zu fördern, damit sie auch komplexere Aufgaben effizient ausführen können. Dazu müssen sie jedoch in der Lage sein, Anleitungen und Anweisungen zu verstehen und umzusetzen. Das wiederum erfordert aus­reichende Grundkompetenzen. In diese zu investieren, ist wesentlich rentabler, als Arbeitnehmende zu ersetzen. Dadurch steigen auch die Mitarbeitendenzufriedenheit sowie die Loyalität zum Betrieb. Das haben mittlerweile viele ­Arbeitgebende erkannt.

Wie könnte man Arbeitgebenden Weiter­bildungen für Geringqualifizierte schmackhafter machen?

Beispielsweise mit einem Projekt wie «Einfach besser – am Arbeitsplatz.» Dieses wird vom Bund, den Kantonen und den Organisationen der Arbeitswelt gefördert, damit Arbeitgebende geeignete Weiterbildungsmassnahmen für ­bildungsferne Menschen umsetzen können. Dazu zählen beispielsweise massgeschneiderte und arbeitsplatzorientierte Kurse im Betrieb, die Arbeitnehmende für künftige Herausforderungen fit machen.

Menschen mit lückenhaften Grundkom­petenzen ergreifen von sich aus kaum die Initiative. Woran liegt das?

Oft ist es eine Mischung aus schlechten Schul­erfahrungen, fehlenden Berufsperspektiven und finanziellen Ressourcen sowie Zeitmangel. Viele schämen sich, weil sie unzureichend lesen, schreiben und rechnen können oder ihnen digitale Fähigkeiten fehlen. Ohne diese Kompetenzen können sie sich aber kaum weiterbilden. Ausserdem ist Bildungsfernen häufig nicht bewusst, wie wichtig eine Weiterbildung ist. Etwa, weil es ihnen im Moment beruflich noch gut geht oder sie keine passenden Angebote kennen. Es fällt ihnen aber auch schwer, Bildungsangebote für sich einzufordern. Zum einen aus Angst, es nicht zu schaffen, zum anderen, weil sie sich angreifbar machen, wenn ihre fehlenden Grundkompetenzen zum Thema werden. Hinzu kommt, dass sie sich im Betrieb nicht als Zielgruppe von Weiterbildungsmassnahmen sehen, da sich diese grösstenteils an Gutausgebildete richten.

Inwiefern brauchen Niedrigqualifizierte Unterstützung?

Betroffene müssen bei einer Weiterbildung relativ viele Hürden überwinden, die Gutqualifizierten nicht im Weg stehen. Meist situative, kognitive oder institutionelle Barrieren. ­Dementsprechend müssen Hindernisse möglichst abgebaut und ­niederschwellige Bildungsangebote geschaffen werden. Dabei hilft beispielsweise ein Gespräch mit dem Mitarbeitenden, um formelle Hürden abzubauen und die Finanzierung zu klären.

Was ist mit niedrigschwellig gemeint?

Niedrige Zugangshürden. Das heisst Angebote, die keine Anmeldung erfordern oder bei denen Interessierte bei der Lösung eines Problems unkompliziert Hilfe erhalten. Beispielsweise beim Ausfüllen eines Online-Formulars oder beim Schreiben einer Bewerbung. So machen Menschen mit lückenhaften Grundkompetenzen positive Lernerfahrungen, die sie ermutigen, am Ball zu bleiben.

Mit dem Bundesgesetz über die Weiterbildung startete der Bund eine Bildungsoffensive mit dem Schwerpunkt, die Grundkompetenzen der Menschen zu fördern. Inwiefern ändert das etwas an der Förderung Niedrigqualifizierter?

Seit das Weiterbildungsgesetz 2017 in Kraft trat, werden Grundkompetenzen in der Schweiz stärker gefördert. Mit dem Engagement des Bundes und der Kantone wurden hierfür erstmals Ziele definiert und die Finanzierung sichergestellt. In den vergangenen vier Jahren entstanden zahlreiche Bildungsangebote und Projekte, die Menschen mit geringen Grundkompetenzen ansprechen, sie unterstützen und ihnen geeignete Bildungsangebote vermitteln. Dazu tragen weitere Stellen bei: etwa die Sozialhilfe, die Berufs- und Laufbahnberatung sowie die Arbeitgebenden. Trotz dieser positiven Entwicklung steigen die Kompetenzanforderungen weiterhin, weshalb uns die Förderung der Grundkompetenzen auch in den kommenden Jahren beschäftigen wird.

Angst vor Weiterbildung

Menschen mit mangelnden Grundkompetenzen haben oft eine Lernodyssee hinter sich. Die Angst, dumm dazustehen, blockiert sie. Eine Weiterbildung trauen sie sich oft nicht zu. Hinzu kommen finanzielle Erschwernisse. Es braucht deshalb niederschwellige Bildungsangebote. Drei Beispiele.

«Lernstuben» des Kantons Zürich

Es könnte ein gemütliches Café an einem x-beliebigen Ort sein. Doch das Ziel ist nicht das gesellige Zusammensein, sondern bildungsfernen Erwachsenen mit Wohnsitz im Kanton Zürich einen niederschwelligen Einstieg ins Lernen zu bieten. Das Potenzial ist gross: Gemäss Hochrechnungen können 15 Prozent der Kantonsbewohnerinnen und -bewohner, also rund 140'000 Erwachsene, kaum schreiben, lesen und rechnen, sich mündlich auszudrücken oder mit Informations- und Kommunikationstechnologien umgehen. Besonders betroffen sind «Working Poor», die im Niedriglohnsektor arbeiten, nichterwerbstätige Eltern, Menschen mit Migrationshintergrund, nicht diagnostizierten Seh-, Hör- oder Lernbehinderungen oder Ältere, die den digitalen Anschluss verpasst haben. In den «Lernstuben» werden sie individuell betreut und erhalten Hilfe im Alltags- oder Berufsleben. Beispielsweise bei der Installation einer App, bei der Interpretation einer Gebrauchsanleitung oder beim Ausfüllen eines Formulars. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich. Besucherinnen und Besucher profitieren zudem von Kursen, Workshops, Bewerbungswerkstätten oder Schreibdiensten. Derzeit gibt es im Kanton vier «Lernstuben» (Dübendorf, Kloten, Oerlikon und Altstetten). Anfang 2022 wird in Wetzikon eine fünfte eröffnet. Bis 2024 soll ein über den ganzen Kanton verteiltes Netzwerk mit jährlich zwei bis drei neuen entstehen. Angesiedelt ist das «Lernstuben»-Projekt im kantonalen Programm «Grundkompetenzen Erwachsene» und wird von unterschiedlichen Organisationen getragen. Das heisst: von kommunalen Einrichtungen, Stiftungen, Vereinen mit öffentlichem Auftrag oder Weiterbildungsanbietenden. In der «Lernstube» kümmert sich speziell dafür ausgebildetes Personal um die Besuchenden, koordiniert die Angebote von Anbietern und Besuchenden und teilt freiwillig Helfende ein. Das «Lernstuben»-Angebot stösst auf eine wachsende Nachfrage: Seit August 2020 besuchten über 700 Menschen eine der Einrichtungen. Noch mangelt es am Bekanntheitsgrad. Das soll sich gemäss der Programmverantwortlichen Barbara Hertzman nun ändern. «Bildungsferne Menschen, Vermittler, Organisationen, aber auch Ämter müssen wissen, wie und wo Menschen Hilfe erhalten, um sich im Alltag und im Beruf besser zurechtzufinden.»

Bildungsgutscheine Kanton Luzern

Weiterbildung ohne Firlefanz: Im Kanton Luzern können Menschen mit wenig Grundkompetenzen jährlich zwei Bildungsgutscheine von jeweils 500 Franken auf besser-jetzt.ch/luzern herunterladen und für Kurse nutzen. Gedacht ist das Angebot für Menschen, die ihre Schreib-, Lese-, Rechen- oder IT-Kompetenz sowie ihre mündliche Ausdrucksfähigkeit in Deutsch verbessern möchten. Die Zielgruppe ist hinsichtlich ihres Alters, Erwerbsstatus und Bildungsabschlusses bunt durchmischt: «Menschen mit mangelnden Grundkompetenzen sind in allen sozialen Schichten vertreten», sagt Patricia Buser, Leiterin des Ressorts Weiterbildung der Dienststelle Berufs- und Weiterbildung. Betroffen seien jedoch mehrheitlich 30- bis 49-jährige Frauen ohne Sekundarstufenabschluss. Das Kursangebot des Kantons Luzern auf besser-jetzt.ch/luzern ist vielfältig und reicht von Schreib- und Lesekursen bis zu einem 180 Lektionen umfassenden Vorbereitungskurs für einen Berufsabschluss für Erwachsene. Zu den Bildungsanbietenden gehören Grossanbieter wie die Migros Klubschule ebenso wie kleinere Vereine wie Kunigo. Die rund 200 Angebote der zehn Bildungsanbieter sind auf die Bedürfnisse der Nachfragenden abgestimmt und werden im engen Austausch zwischen Kanton und Privatanbietern entwickelt. Bei welchem Anbieter Interessierte ihre Bildungsgutscheine einlösen, steht den Lernenden frei: «Wichtig ist, dass die Kurse unabhängig vom Erwerbsstatus ohne administrative Hürden zugänglich und online buchbar sind», sagt Buser. Anspruch auf Bildungsgutscheine haben alle im Kanton Luzern wohnhaften Personen im Alter von 18 bis 65 Jahren, die derzeit keine Berufslehre absolvieren. Um am Programm teilzunehmen, ist ein Mindest-Sprachniveau von A2 erforderlich, damit Interessierte einfache Sätze und häufig gebrauchte Ausdrücke verstehen und dem Unterricht folgen können. Erfüllen sie dieses Kriterium nicht, wird ihnen empfohlen, vorher einen Deutschkurs zu besuchen. Beispielsweise auf gruezi.lu.ch. Finanziert werde das Bildungsgutscheinprogramm zu 50 Prozent vom Bund. «Die andere Hälfte übernehmen wir», sagt Buser. Mit der Programmentwicklung ist sie bisher zufrieden: Seit der Lancierung im ­September 2020 hätten Anspruchsberechtigte über 1000 Bildungsgutscheine bezogen und bis November 2021 rund 600 Kurse abgeschlossen. «Das ist als Erfolg zu werten», sagt Buser. «Es braucht häufig viel Überwindung, bis sich jemand mit seinen Grundkompetenzen auseinandersetzt, und etwa vier Kontakte über Medien, Bekannte, Familie oder Fachstellen, bis er einen Kurs besucht.» Um Anspruchsberechtigte besser zu erreichen, müssten auch Vermittelnde, Beratende in Fachstellen oder HR-Verantwortliche eingebunden werden. Noch sei das Gutscheinprogramm bei diesen zu wenig bekannt. Deshalb läuft im Kanton Luzern derzeit eine Kommunikationsoffensive: «Wir werden unsere Informationskampagne über Social Media ausbauen, um auch sie ­anzusprechen.»
Haben Sie Fragen zu den Gutscheinen oder brauchen Hilfe bei der Kursauswahl? Luzerner Hotline: 0800 47 47 47. Zudem ist eine Kurzberatung im Beratungs- und Informationszentrum für Bildung und Beruf (BIZ) Luzern möglich.

Weiterbildung in der Sozialhilfe

Bisher profitierten Sozialhilfebezüger selten von Weiterbildungsmassnahmen. Das soll sich durch das Weiterbildungsgesetz und das Pilotprojekt der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) sowie des Schweizerischen Verbands für Weiterbildung (SVEB) «Weiterbildung in der Sozialhilfe» ändern: Bei den beteiligten Sozialdiensten durchlaufen Klienten mit Wiedereingliederungspotenzial ein Assessment. Das, um herauszufinden, wie sie arbeiten und sich in einer Arbeitssituation verhalten, aber auch, wie gut sie schreiben, lesen, rechnen oder mit IT umgehen können. Sozialhilfeangestellte erarbeiten danach mit den Klienten individuelle Bildungsziele und erstellen Bildungspläne mit Grundkompetenzkursen über Berufsatteste bis hin zu Ausbildungen mit eidgenössischem Abschluss. «Dieses Vorgehen eignet sich aber nicht für alle Menschen», sagt Markus Kaufmann, Geschäftsführer der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe SKOS. «Mit einem typischen Assessment löst man auch Blockaden aus. Wer Angst vor dem Versagen hat, verschliesst sich in Testsituationen.» Das sei durch die Bildungsodyssee zu erklären, die viele hinter sich hätten: «Wegen schulischer Misserfolge entwickeln manche Menschen grosse Ängste. Sie fürchten sich davor, als dumm zu­ ­gelten.» Deshalb müssten schweizweit niederschwellige Bildungsangebote wie die «Lernstuben» im Kanton Zürich oder Bildungsgutscheine im Kanton Luzern geschaffen werden. Die Aufgabe der Sozialdienste sieht Kaufmann vor allem darin, die Fähigkeiten eines Menschen zu erkennen, sie im Bildungsprozess zu begleiten, für eine Weiterbildung zu motivieren und passende niederschwellige Bildungsangebote vorzuschlagen. Mit dem Pilotprojekt «Weiterbildung in der Sozialhilfe» unterstützten SKOS-Experten in den vergangenen zwei Jahren ausgewählte Sozialdienste bei der Optimierung der Amtsabläufe, thematisierten in Workshops die Weiterbildungsherausforderungen von Sozialhilfe-Klienten, boten Coachings und erarbeiteten zusammen mit den Sozialarbeitenden ein auf das jeweilige Sozialamt angepasste Bildungskonzept. Wie viele Klienten der «Test-Sozialdienste» durch diesen integrativen Ansatz mittlerweile den Sprung in die Wirtschaftswelt schafften, vermag Kaufmann aufgrund des noch nicht fertiggestellten Evaluationsberichts noch nicht zu sagen. Dennoch: «Die Zahl der Sozialdienstablösungen ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Einen Zusammenhang zur Weiterbildungs­offensive herzustellen, ist aber schwierig.» Die erste Projektphase sei nun abgeschlossen, in einer zweiten Phase sollen nebst den bisherigen 40 Sozialdiensten weitere involviert werden – auch in der Romandie. Zudem will Kaufmann die interkantonale Weiterbildungszusammenarbeit vorantreiben und die Wirtschaft stärker einbinden. Beispielsweise, indem Firmen für Sozialhilfe-Klienten Praktika schaffen.

 

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Chefredaktorin, HR Today. cp@hrtoday.ch

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