Mikropolitik für die Unternehmensziele nutzen
Widerstand formiert sich in der Kantine oder im Pausenraum. Anliegen werden in Gängen, auf Toiletten oder in Mitarbeiterchats diskutiert. Willkommen in der Welt der Mikropolitik. Gerade bei Veränderungen spielt sie eine wichtige Rolle. Und kann zum Scheitern führen – oder zum Erfolg.
Mikropolitik findet statt. In jedem Unternehmen. Die Führungsetage handelt mehr oder weniger dauernd mikropolitisch. (Bild: 123RF)
Die Geschäftsleitung des Versicherungsunternehmens hatte die Entscheidung einstimmig angenommen: Die beiden Abteilungen Sales und Marketing sollen organisatorisch zusammengelegt werden. Doch die Diskussionen in der Belegschaft waren heftig, der Widerstand ein Jahr nach Umsetzung noch immer massiv.
Unverständlich – wurde das Vorhaben doch vom Projektteam klar und logisch hergeleitet und von der Geschäftsleitung gutgeheissen. Wirtschaftlich und unternehmerisch ist der Entscheid absolut nachvollziehbar.
Weshalb ist bei den Betroffenen trotzdem kein Commitment da? Die Erklärung liegt auf der Hand: Das Projektteam und die Geschäftsleitung haben die Beeinflusser und Dynamiken innerhalb des Unternehmens vergessen.
Anliegen und Ängste werden in Gängen, auf Toiletten oder in Mitarbeiterchats diskutiert. Widerstand formiert sich in der Kantine oder im Pausenraum. Die Wahrnehmung der Mitarbeitenden kann erheblich von dem abweichen, was die Geschäftsleitung kommuniziert und vermitteln will.
Mikropolitik beeinflusst Wandel
Bauen Mitarbeitende innerhalb eines Unternehmens persönliche Macht auf und setzen sie diese im Arbeitsalltag gezielt ein, spricht man von Mikropolitik. Gemäss dem deutschen Psychologen Oswald Neuberger können Mikropolitiker zwar Unternehmensziele verfolgen – oft stehen aber ihre eigenen Interessen im Vordergrund. Durch ihr informelles Kommunizieren, etwa bei einem Ganggespräch oder Feierabendbier, beeinflussen und prägen sie die Unternehmenskultur.
So kommt es, dass das Verhalten der Mitarbeitenden teils grundlegend von dem abweicht, was von ihnen erwartet wird – wie im Fall der Abteilungsfusion. Stehen in der Organisation Veränderungen an, können diese von betroffenen Mikropolitikern gefördert oder eben behindert werden. Man geht davon aus, dass ein Veränderungsprozess umso erfolgreicher ist, je stärker er von den betroffenen Mitarbeitenden getragen wird.
Was ist Mikropolitik?
Erstmals aufgetaucht ist der Begriff 1961 in einem Artikel des englischen Soziologen Tom Burns. Schnell gewann er an Bedeutung im Kontext von sozialen Systemen in Unternehmen.
Der deutsche Soziologe Horst Bosetzky beschreibt Mikropolitik als «die Bemühungen, die systemeigenen materiellen und menschlichen Ressourcen zur Erreichung persönlicher Ziele, insbesondere des Aufstiegs im System (...), zu verwenden sowie zur Sicherung und Verbesserung der eigenen Existenzbedingungen».
Die modernste Definition stammt vom deutschen Psychologen Oswald Neuberger: «Das Arsenal jener alltäglichen ‹kleinen› (Mikro-)Techniken, mit denen Macht aufgebaut und eingesetzt wird, um den eigenen Handlungsspielraum zu erweitern und sich fremder Kontrolle zu entziehen.»
Strategien von Mikropolitikern
Wer mikropolitisch agiert, beeinflusst seine Arbeitskollegen oft unbemerkt und nutzt ihr Verhalten zu seinen Gunsten. Er setzt Strategien und Taktiken ein, um seine Präferenzen durchzusetzen, aber auch, um Abwehrreaktionen oder Gegenmassnahmen zu initiieren. Gelegenheiten und Örtlichkeiten gibt es genügend – unter anderem das alltägliche Treffen in der Kantine.
Die Verhaltensforscher Michael Schiffinger und Johannes Steyrer der Universität Wien differenzieren im Artikel «Der K(r)ampf nach oben – Mikropolitik und Karriereerfolg in Organisationen» von 2004 zwischen drei Taktiken mikropolitischen Verhaltens:
- Mikropolitiker wenden Einflusstaktiken an, um konkrete Ziele durchzusetzen. Dazu beeinflussen sie das Verhalten anderer direkt. Zum Beispiel, indem sie diese emotional ansprechen und auf gemeinsame Ziele und Werte einschwören. Oder durch sachliches, einseitiges Argumentieren.
- Will der Mikropolitiker lenken, wie andere ihn sehen, spricht man von Impression Management. Dazu gehören Verhaltensweisen wie etwa das Einschmeicheln und das Erweisen von Gefälligkeiten. Oder aber das Einschüchtern als profanes Mittel zur Demonstration der eigenen Macht. Personen, die Impression Management betreiben, streichen ihre Fähigkeiten und Leistungen oft deutlich heraus oder verhalten sich in bestimmten Situationen übertrieben korrekt.
- Mikropolitiker betreiben Networking, um unter strategischen Gesichtspunkten Kontakte aufzubauen und zu pflegen. Gegebene soziale Beziehungen nutzen sie, um Ziele zu erreichen.
Mikropolitik als Führungsinstrument
Jeder Mitarbeiter, jede Mitarbeiterin kann die Rolle eines Mikropolitikers einnehmen. Es gibt keine hierarchischen Grenzen. Das macht die Mikropolitik zu einem unberechenbaren Beeinflusser. Oder – bei gezieltem Einsatz – zu einem wichtigen Leitinstrument, etwa für Kommunikation und Führung.
Zurück zum Beispiel der Unternehmens-transformation: Stehen innerhalb einer Organisation Veränderungen an, sind die Mitarbeitenden meist verunsichert. Im Idealfall informiert die Geschäftsleitung die gesamte Belegschaft persönlich über die Veränderungen. Das gewährleis-tet, dass alle im Unternehmen den gleichen Wissensstand haben. Doch oft reicht dies nicht aus, um Fragen zu klären und mögliche Widerstände zu verhindern.
Gefragt sind dann Führungspersonen, die in individuellen Gesprächen die Notwendigkeiten erläutern und Unsicherheiten abfangen.
Hier kommen die Beeinflusser ins Spiel, die grosse Macht auf die Akzeptanz und das Verhalten der Mitarbeitenden haben. Es gilt, diese Mikropolitiker so zu beeinflussen, dass sie die Kernbotschaften und Werte des Wandels positiv in die Organisation hineintragen. Informell, mit ihren eigenen Worten.
Am Beispiel der Abteilungsfusion bedeutet dies, Mitarbeitende und Meinungsmacher frühzeitig in eine offene Diskussion mit einzubeziehen – das unterstützt den Wandel.
Kein falsches Spiel
Mikropolitik findet statt. In jedem Unternehmen. Die Führungsetage handelt mehr oder weniger dauernd mikropolitisch. Bewusst oder unbewusst.
Wichtig ist, dass dabei die Geschäftsinteressen im Vordergrund stehen. Natürlich werden vor allem im Bereich der Karriereplanung auch mikropolitische Tätigkeiten für den Eigennutz durchgeführt. Aber auch jene sollten grundlegend auf dem Wohlwollen gegenüber dem Unternehmen aufgebaut sein. Wer Mikropolitik bei Veränderungsprozessen in Unternehmen bewusst zu nutzen weiss, hat grössere Chancen, die gewünschten Ziele zu erreichen. Positive Beeinflussung ist eine legitime, taktische und wünschenswerte Vorgehensweise. Sie ist Teil jeder Organisation und prägt die Unternehmenskultur massgebend. Ausschlaggebend ist, dass sie im Interesse der Unternehmung, für eine nachhaltige und positive Entwicklung eingesetzt wird.
Eine gesunde und offene Unternehmenskultur ist die Basis einer positiv gelebten Mikropolitik. Politik kann immer auch in eine negative Richtung betrieben werden – das kann ein Unternehmen nicht vollständig verhindern. Unruhestifter gilt es gezielt zu beeinflussen, auch durch mikropolitische Taktiken. In krassen Fällen, wenn das Schüren von Widerstand Programm ist und andere nur negativ beeinflussen soll, sind Sanktionen oder Kündigungen nötig.
In vielen Fällen lässt sich jedoch über die Unternehmenskultur das Risiko dafür minimieren, weil Intrigen in einer gesunden Kultur keinen Nährboden finden.
Mikropolitik und Kultur
Mikropolitik ist eng verbunden mit Organisationen und deren Kultur. Das EMBA-Modell der Hochschule Luzern unterscheidet «Polity», «Policy» und «Politics». Unter «Polity» werden die institutionellen Regelungen verstanden.
«Policy» beschreibt die Unternehmenskultur mit den entsprechenden Richt- und Leitlinien.
«Politics» hingegen beinhaltet die Akteure und Beziehungen innerhalb der Organisation. Diese sind nicht voll durchkalkulierbar, da stets unterschiedliche Gruppen und Interessen entstehen.
Die Unternehmenskultur prägt das mikropolitische Verhalten der einzelnen Mitarbeitenden. Es stellt sich daher die Frage: Welche Kultur lässt welche Mikropolitik zu? Es kann davon ausgegangen werden, dass eine offene, positive und wettbewerbsorientierte Unternehmenskultur mikropolitisches Handeln zulässt, das zum Unternehmenserfolg beiträgt.
Quellen:
- Schiffinger, M, Steirer, J. (2004): Der K(r)ampf nach oben – Mikropolitik und Karriereerfolg in Organisationen. Zeitschrift für Führung und Organisation, 73 (3/2004), S. 136–143.
- Burns, T. (1961): Micropolitics: Mechanisms of Institutional Change. In: Administrative Science Quarterly, 6, S. 257-281.
- Neuberger, O. (1995): Führen und Geführt werden. S. 261. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag.
- Bosetzky, H. (1972): Die instrumentelle Funktion der Beförderung. In: Verwaltungsarchiv, Nr. 63, S. 382.
Die Autoren sind Teilnehmer des Executive MBA der Hochschule Luzern – Wirtschaft. Ihre Expertise basiert auf Fachliteratur, ihrer eigenen Erfahrung sowie zwei Hintergrundgesprächen. Der Artikel entstand als Teil des Unterrichtsblocks «Fach- und Krisenkommunikation».