HR Today Nr. 2/2022: Debatte

Stadt-Land-Schere?

Soll man Mitarbeitenden, die in ländlichen Gebieten wohnen, weniger Lohn zahlen? Eine provokante Frage, auf die provokant gekontert wird. Drei Meinungen.

Monika Bütikofer, Senior HR-Manager, Webhelp Schweiz AG: «Soll ich lachen oder weinen?»

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Ein provokantes Thema im Kontext von «Me too», «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit», «Diversity» oder «Lohngleichheitsanalysen», gleichzeitig aber auch Inspiration für Rekrutierungsgespräche. Die Fragen werden nicht mehr heissen: «Sind Sie schwanger oder möchten Sie in den nächsten zwei Jahren eine Familie gründen?» Stattdessen: «Haben Sie vor, in den nächsten zwei Jahren nach Zürich zu ziehen?» Soll der imaginäre Stadt-Land-Graben ausgebaut werden? Wer ländlicher wohnt, hat weder eigene Hühner und Kühe noch einen prall gefüllten Garten zur Selbstversorgung. Nein, im Gegenteil. Hier leben Neuzuzüger aus der Stadt, die jede Kuh- und Kirchenglocke einklagen. In ländlichen Gegenden ist man auf ein Fahrzeug angewiesen, weil nicht an jeder Ecke ein Tram oder Bus im Sieben-Minuten-Takt fährt, auch fehlt oftmals ein Bahnhof in Gehdistanz. Coop, Migros, Aldi, Lidl und Co. sind auch eine Seltenheit. Es gibt zwar kleinere Läden oder fahrende Läden, doch deren Preise können selten mit den Grossverteilern konkurrieren. Die Treibstoffpreise sind meist auch höher. Was also könnte man einem Kandidaten oder einer Kandidatin als Begründung mit auf den Weg geben, wieso er oder sie 1000 Franken weniger verdient als die Kolleginnen und Kollegen, die im Stadtzentrum wohnen? Wie würde sich das zudem auf eine Lohnregion wie die Ostschweiz versus Zürich auswirken? Bereits heute hat der Thurgau ein tieferes Lohngefüge als Zürich. Würde dann innerhalb des Kantons Zürich nochmals eine Lohnreduktion erfolgen, weil jemand auf dem Land wohnt? Und was passiert mit Grenzgängern, auf die wir in verschiedenen Branchen angewiesen sind? Ich stelle mir das Thema bildlich vor: Wir sitzen am gleichen Tisch, sind gleich alt, bringen die gleiche Grundausbildung mit, machen die identische Weiterbildung, zahlen die gleichen Kurskosten, schliessen mit der gleichen Note ab. Und dann ist meine Ausbildung weniger wert, weil ich den falschen Wohnort habe. Soll ich lachen oder weinen?

Debora Sophie Meier, Junior Advisor, Laux Lawyers AG: «Die praktische Umsetzung darf nicht unterschätzt werden.»

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Das Obligationenrecht (OR) hält in Art. 322 Abs. 1 fest, dass Arbeitgebende den Arbeitnehmenden einen Lohn zu entrichten haben, der verabredet, üblich oder durch Normal- oder Gesamtarbeitsvertrag bestimmt ist. Der Gesetzgeber schliesst dabei eine auf den Wohnort basierende Lohnvergütung im Grundsatz nicht aus. Schranken bei der Lohnfestlegung bilden unter anderem das Gleichbehandlungsgebot, das Mann und Frau einen Anspruch auf den gleichen Lohn bei gleichwertiger Arbeit gewährt, sowie die Mindestlohnvorschriften. Zudem schreibt das Freizügigkeitsabkommen vor, dass ausländische gegenüber inländischen Arbeitnehmenden aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht diskriminiert werden dürfen. Zusätzlich zu berücksichtigen sind die Regelungen bezüglich allgemeinverbindlicher Gesamtarbeitsverträge (GAV), Normalarbeitsverträgen (NAV) sowie Handelsreisenden, welche einen Anspruch auf ein angemessenes Entgelt bei überwiegender Provisionsvergütung haben. Beabsichtigen Arbeitgebende die Einführung einer wohnsitzabhängigen Vergütung, sind damit auch die relevanten GAV- und NAV-Mindestlohnvorschriften auf deren Anwendbarkeit hin zu prüfen. Kantonale Mindestlohnvorschriften sind nur vereinzelt vorhanden. Stehen weder verfassungsmässige noch gesetzliche Schranken und Mindestlohnvorschriften der Einführung einer wohnsitzabhängigen Vergütung im Weg, ist eine solche grundsätzlich zulässig. Bei Neueintritten hätte die rechtlich korrekte Umsetzung beispielsweise mit einer Klausel im Arbeitsvertrag zu erfolgen, welche die Lohnhöhe mit Kriterien wie der Steuerbelastung an den Wohnsitz des Arbeitnehmenden knüpft. Bei der Umstellung auf eine wohnsitzabhängige Vergütung haben Arbeitgebende die Vorschriften zu den Änderungskündigungen respektive allenfalls sogar den Massenentlassungen zu berücksichtigen. Die praktische Umsetzung einer wohnsitzabhängigen Vergütung darf nicht unterschätzt werden: Nebst den juristischen Abklärungen im Vorfeld dürfte sich auch der administrative Umsetzungsaufwand als eher gross herausstellen. Zudem sind Arbeitnehmende nur selten bereit, eine Lohnreduktion hinzunehmen, weshalb Fluktuationen im Betrieb und allenfalls sogar Reputationsverluste die Folge sein könnten.

Frank Rechsteiner, Gründer, IT-Talent-Finder: «Gilt das Leistungsprinzip, spielt der Arbeitsort keine Rolle.»

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Die letzten zwei Jahre haben gezeigt, dass viele Mitarbeitende ihre Tätigkeit weitestgehend im Homeoffice erledigen können. Von Führungskräften höre ich immer wieder, wie überrascht sie seien, dass Projekte und Zusammenarbeit mit den Kunden so gut liefen. Daraus ergibt sich folgerichtig die Frage, ob man unbedingt in der Stadt wohnen muss oder auch auf das kostengünstigere Land umziehen kann. Aus Sicht der Mitarbeitenden spricht vieles dafür, den Wohnort an eigene Bedürfnisse anzupassen und damit die Lebensqualität zu erhöhen. Davon profitiert auch der Arbeitgebende: Zufriedene und ausgeglichenere Mitarbeitende erledigen ihre Aufgaben besser. Des Weiteren ergibt sich durch Remote Work oder Homeoffice oft eine enorme Zeiteinsparung, weil man keine Lebenszeitstunden mehr auf dem oft staubbeladenen Weg zur Arbeitsstätte vergeuden muss. Einen Arbeitgebenden darf es nicht mehr kümmern, wo ein Mitarbeitender wohnt und arbeitet. Selbst ein Projektmitarbeiter kann seinen Job hervorragend auf Mallorca verrichten. Dazu muss er nicht jeden Tag seine Zeit im Office absitzen. Gilt das Leistungsprinzip, spielt der Arbeitsort keine Rolle. Das Leistungsprinzip bezahlt Leistung, also beispielsweise abgeschlossene Projekte – und nicht abgeleistete Stunden. Da sind wir uns hoffentlich einig. Mir als Arbeitgebender ist es daher völlig egal, wo meine Mitarbeitenden wohnen und somit arbeiten. Ich bezahle ihre Leistung – nicht ihren Wohnort. Dieses Prinzip praktizieren wir schon seit über zehn Jahren. Das kann ich jedem Unternehmer nur empfehlen. Zufriedene Mitarbeitende danken es Ihnen. Ziehen Arbeitgebende in Betracht, Mitarbeitenden, die auf dem Land wohnen, weniger Lohn zu zahlen, bezeichne ich das als Machtmissbrauch. Dieser wird von Mitarbeitenden über kurz oder lang mit schlechter Arbeit und Kündigung sowie Fluktuation bestraft – und meiner Meinung nach zu Recht.

 

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