Vom Abstellgleis in den ersten Arbeitsmarkt
Während sich beim Thema Inklusion vieles um IV-Beziehende dreht, gehen Sozialhilfebeziehende bei der Diskussion gerne vergessen. Über Hürden, verstecktes Potenzial und zweite Chancen.
Viele, die aus dem ersten Arbeitsmarkt herausgefallen sind, haben Potenzial und sind motiviert, weiterzukommen. (Bild: iStock)
Ihre Zahl ist gross und nahm aufgrund des Bevölkerungswachstums in den vergangenen zehn Jahren absolut stets zu: In der Schweiz werden derzeit 272 100 Personen von der Sozialhilfe finanziell unterstützt – das sind 3,2 Prozent der Gesamtbevölkerung. Ihre Reintegration erweist sich als schwierig: 2020 traten nur 28,3 Prozent aller Sozialhilfebeziehenden aus der Sozialhilfe aus. Das ist ein Rückgang von 4,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr und der tiefste Ablösungswert seit 2013. Gerade ein Viertel der ehemaligen Sozialhilfebeziehenden kehren dauerhaft in den Arbeitsmarkt zurück.
Auch wenn diese Zahlen entmutigend erscheinen: Dieser geringe Wiedereingliederungsanteil ist bereits als Erfolg zu werten. Das bestätigt die Studie «Wirksamkeit von Integrationsprogrammen in der Sozialhilfe» von Peter Neuenschwander et al., erschienen 2018, wonach mit Integrationsprogrammen jährlich zwischen 20 bis 25 Prozent der Sozialhilfebeziehenden austreten könnten. Diese Quote hat sich in den vergangenen Jahren trotz aller Inklusionsbemühungen kaum verändert.
Doch weshalb gelingt die Eingliederung dieser Menschen kaum? Die Studie «Integrationschancen der Sozialhilfebezüger in den Arbeitsmarkt» des Staatssekretariats für Wirtschaft SECO ging dieser Frage im Oktober 2009 nach. 23 Prozent der 1529 befragten Sozialhilfebeziehenden aus Basel, Luzern, St. Gallen, Lausanne und Biel, die zum Zeitpunkt der Befragung über sechs Monaten keine Stelle hatten, traten innerhalb der folgenden sechs Monate eine neue Stelle an und benötigten keine weitere finanzielle Hilfe. 11 Prozent fanden zwar eine Beschäftigung, konnten sich aber nicht von der Sozialhilfe lösen (Working Poor), weitere 9 Prozent verloren ihre temporäre Arbeit oder Arbeit auf Abruf und 28 Prozent fanden überhaupt keine Beschäftigung.
Als Ursache für die schleppende Integration vermuteten die Autoren Faktoren wie das Alter, die Ausbildung, die bisherige berufliche Stellung sowie die Sprachkompetenz. Demnach hätten Menschen über 50 Jahre und solche ohne abgeschlossene Ausbildung auf Sekundarstufe II deutlich schlechtere Integrationschancen. Eine höhere berufliche Stellung erhöhe dagegen die Wiedereingliederungschancen, ebenso gute Sprachkenntnisse. Wenig Einfluss auf die Integration hätten dagegen die Nationalität oder das Geschlecht.
Arbeit für Kranke
Der Wiedereingliederung steht zudem die schlechte Gesundheit von Sozialhilfebeziehenden entgegen, zeigen weitere Studien. Gemäss der Reich et al. Studie «Health Care Utilization and Expenditures in Persons Receiving Social Assistance» von 2015 leiden Sozialhilfebeziehende häufiger unter gesundheitlichen Beeinträchtigungen als die Gesamtbevölkerung. Das Risiko, chronisch zu erkranken oder früher zu sterben, unterscheidet sich erheblich nach Einkommen und Vermögen, konstatiert eine weitere Studie «Health Inequalities: Trends, Progress and Policy» von Bleich et al. aus dem Jahr 2012. In einer anderen folgern die Autoren, dass die Gesundheit und die finanziellen Ressourcen auch die Teilnahme am Erwerbsleben beeinflussen. Von der Wechselwirkung zwischen sozioökonomischem Status und der Gesundheit sei die Schweiz nicht ausgenommen, konstatiert die «Obsan»-Studie 2019.
Die im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit durchgeführte Studie «Gesundheit von Sozialhilfebeziehenden» vom Juli 2021 verdeutlicht das: Sozialhilfebeziehende leiden doppelt so häufig unter chronischen Erkrankungen wie Menschen mit mittlerem oder höherem Einkommen, vier- bis fünfmal mehr unter Schlafstörungen, viermal mehr unter Rückenschmerzen und fünfmal so häufig unter psychischen Erkrankungen. Zudem nehmen sie mehr Medikamente. Ein Fünftel von ihnen ist im Alltag so eingeschränkt, dass der Wiedereinstieg ins Erwerbsleben deutlich erschwert und ihre Fähigkeit vermindert wird, ein existenzsicherndes Einkommen zu erzielen.
Dem Sozialhilfebezug geht meist eine lange Geschichte voraus. Schon drei Jahre davor verschlechtert sich die Gesundheit der Betroffenen und erreicht beim Sozialhilfeeintritt einen Tiefpunkt, der sich bis zum Austritt wieder verbessert. Die Ursachen sind für die Studienautoren nicht ausreichend geklärt. Möglich seien eine Krankheit, welche die Erwerbstätigkeit zunehmend einschränke, Ereignisse wie ein Todesfall oder eine Scheidung, welche die Gesundheit beeinträchtigen, aber auch der gesellschaftliche Ausschluss und das mit der Sozialhilfe verbundene Stigma, das letztlich krank macht.
Vernachlässigtes Potenzial
Während IV-Beziehende mit Qualifizierungsangeboten umworben werden, scheint sich kaum jemand für jene für Sozialhilfebeziehende zu interessieren. Insbesondere nicht für chronisch Erkrankte. Dennoch gibt es auch für sie Unterstützung, «allerdings meist nicht direkt von der Sozialhilfe», erläutert Tobias Fritschi, Leiter des Instituts Soziale Sicherheit und Sozialpolitik der Berner Fachhochschule. Aufgrund des Subsidiaritätsprinzips müsse die Sozialhilfe auf vorgelagerte Leistungssysteme zurückgreifen. Etwa die Umschulungen der Invalidenversicherung, das kantonale Stipendienwesen oder private Stiftungen, die Zweitausbildungen fördern. Käme all das nicht zum Zug, könnten auch Sozialdienste Beiträge an eine Umschulung leisten. «Unter der Bedingung, dass sie mit der Erstausbildung kein existenzsicherndes Einkommen erzielen und die Umschulung Abhilfe schafft.» Ebenso gäbe es Integrationsmassnahmen, sagt Fritschi. «Die Angebote variieren aber von Kanton zu Kanton.»
Damit Sozialhilfebeziehende im ersten Arbeitsmarkt Fuss fassen können, müsse ihr Potenzial präzise eruiert werden, um ihnen ein passendes Angebot zu machen, rät Fritschi. Beispielsweise durch die berufliche Integration mit Arbeitseinsätzen und Praktika sowie die Qualifizierung durch Aus-, Weiter- und Nachholbildung. Letztere, um einen Bildungs- oder Berufsabschluss im Erwachsenenalter zu erlangen. Dabei gäbe es kein Entweder-oder: «Alle Massnahmen sollen nebeneinander bestehen.» Sei eine berufliche Integration jedoch unrealistisch, sollten Sozialämter zumindest Tätigkeiten anbieten, die den Betroffenen eine soziale Eingliederung böten.
Freiwilligkeit als Gebot der Stunde
Eine Stadt, die bei der Wiedereingliederung von Sozialhilfebeziehenden vorwärtsmacht, ist die Stadt Zürich. Im September 2021 hat sie ihre Angebote für Sozialhilfebeziehende überarbeitet, wie einer Medienmitteilung der Stadt Zürich zu entnehmen ist. In der neuen Strategie soll Klientinnen und Klienten mit einer individuelleren Begleitung der Weg in die Arbeitswelt geebnet werden. Freiwilligkeit ist dabei das Gebot der Stunde: Wer aufgrund fehlender Qualifikationen oder gesundheitlicher Beeinträchtigungen kaum Aussichten auf eine existenzsichernde Beschäftigung habe, könne die Angebote und Programme zur sozialen Integration freiwillig besuchen.
Zwang sei auch nicht nötig: Der überwiegende Teil der arbeitsfähigen Sozialhilfebeziehenden finde keine Stelle, weil die Arbeitsmarktanforderungen zu hoch seien, und nicht wegen fehlender Motivation. Um ihre Teilhabe zu fördern, zielt das Eingliederungsprogramm der Stadt Zürich auf 18- bis 64-jährige arbeitsfähige Sozialhilfebeziehende, die mindestens 50 Prozent arbeiten können und wollen. Dazu bietet die Stadt ein vierwöchiges Basis-Beschäftigungsprogramm mit unterschiedlichen Massnahmen für vier Gruppen von Sozialhilfebeziehenden.
Gemäss Medienmitteilung beispielsweise für «Menschen mit grossem Veränderungswillen und einer hohen Arbeitsmarktfähigkeit», die mit Qualifikationsmassnahmen auf den Eintritt in den ersten Arbeitsmarkt vorbereitet werden. Das Programm scheint Wirkung zu zeigen. Fast 30 Prozent der bisher Teilnehmenden fanden seit 2018 den Weg zurück ins Erwerbsleben. Sanktionen gäbe es nur noch bei Menschen, die intakte Arbeitsmarktchancen hätten, aber «wenig Engagement für einen Stellenantritt im ersten Arbeitsmarkt zeigen». Letztere seien jedoch eine Minderheit. Nach Angaben der Stadt Zürich betraf das in den letzten drei Jahren gerade 50 Personen.
Mangelnde Inklusion in der Wirtschaft
Die meisten Menschen wollen also arbeiten. Gemäss Übereinkommen der UNO über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ist die Schweiz sogar verpflichtet, chronisch Kranke oder Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen einzugliedern. Für die Initiatorin der Jobplattform «EnableMe Jobs», Michelle Kolb, die selbst eine Sehbehinderung hat, ist die Arbeitswelt in der Schweiz aber noch viel zu wenig inklusiv. Diese Ausgrenzung geschehe aber nicht aus Bösartigkeit. «Die Berührungspunkte zu Menschen mit chronischen Erkrankungen, Behinderungen und psychischen Beeinträchtigungen fehlen im Berufsalltag. Unternehmen wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen.»
Da stellt sich die Frage, ob sich die vorhandenen Arbeitsplätze für Menschen mit Beeinträchtigungen eignen. «Ja», meint Kolb, denn: «die Qualifikationen und Erfahrungen von Menschen mit Beeinträchtigungen sind genauso vielfältig wie die anderer Berufstätiger.» Häufig würde ihr Potenzial aber unterschätzt. «Unternehmen tun sich schwer, Menschen mit chronischen Krankheiten als Fachkräfte anzuerkennen und ihr Potenzial zu sehen.» Also auch von Menschen, die zurzeit von der Sozialhilfe abhängig sind. Um Unsicherheiten abzubauen, helfe es jedoch, miteinander zu reden, sagt Kolb. «Firmen können sich auf die Selbsteinschätzung der Betroffenen stützen. Sie sind Experten in eigener Sache und wissen, was sie können.»
Bis es zu einer Begegnung von Betroffenen und Unternehmen kommt, gäbe es noch viel zu tun. Für Kolb zeichnet sich ein Hoffnungsschimmer ab: «Unternehmen kommen immer häufiger auf uns zu. Sie suchen einen Partner, der sie bei der Inklusion begleitet.»
EnableMe
«EnableMe» befähigt Menschen mit Behinderungen oder Krankheiten, ihre beruflichen Ziele zu erreichen. Das Angebot umfasst eine Jobbörse, Wissenswertes zur Arbeit, Bewerbungstipps und Austauschmöglichkeiten. Auch für Unternehmen bietet das Portal einen Mehrwert. Dort können Arbeitgebende nicht nur Stellenangebote platzieren, sondern sich über Themen wie die Barrierefreiheit am Arbeitsplatz informieren. Das Portal wurde von der gemeinnützigen Stiftung MyHandicap lanciert. enableme.ch