HR Today Nr. 2/2022: Im Gespräch

Weniger «Friedhöflichkeit»

Wer zur Pandemie eine andere Meinung vertrat, geriet in den vergangenen zwanzig Monaten auch mit Nahestehenden häufig in schwere Konflikte. Um die Gräben im Privaten und in Firmen zu überwinden, lancierte der Verein Schweizerische Gemein­nützige Gesellschaft (SGG) den Appell «Liebe Schweiz», der bisher über 35'000 Mal unterzeichnet wurde. Ein Gespräch mit Präsident Nicola Forster.

Die Corona-Massnahmen haben zu grossen Zerwürfnissen in der Gesellschaft geführt. Ein unschweizerisches Phänomen. Wie kam es dazu?

Nicola Forster: So unschweizerisch ist das Verhalten nicht. Durch die Kleinräumigkeit der Schweiz sind das Harmoniebedürfnis und die ­Konfliktscheue der Menschen hierzulande stark ausgeprägt. Speziell von der älteren Generation und in ländlichen Gegenden werden Konflikte häufig schweigend ausgesessen. Schweizerinnen und Schweizer sollten stärker kontrovers und konstruktiv streiten lernen. Englischsprachige nutzen dafür das Verb «to argue». Damit ist ein faires und heftiges Streiten gemeint, das nicht ausartet und verletzt, sondern bei dem um eine gemeinsame Lösung gerungen wird. Vielleicht können wir auch von unseren deutschen Arbeitskolleginnen und -kollegen lernen und unsere Meinung in Gesprächen vermehrt direkt einbringen. Fassen wir uns dagegen nur mit Samthandschuhen an, entsteht eine leblose «Friedhöflichkeit». Über die Pandemie hinaus müssen wir zudem spannungsgeladene Themen angehen, bei denen es einen Reformstau gibt: die Altersvorsorge, das Verhältnis mit der EU, den Klimawandel oder die Digitalisierung der Arbeitswelt.

Konflikte tun uns somit gut?

Ja, sie können durchaus heilsam und klärend sein. Damit die Konfliktbewältigung jedoch erfolgreich ist, müssen Beteiligte minimale Regeln einhalten. Beispielsweise, indem sie sich gegenseitig ausreden lassen und in der Ich-Form über ihre Ängste, Hoffnungen, Wünsche und ­Ärgernisse berichten, statt die Fehler des Gegenübers aufzulisten und ihn anzuklagen. Bei der Konfliktbewältigung geht es darum, auf Gemeinsamkeiten zu bauen und bei unterschiedlichen Meinungen andere Perspektiven einzunehmen sowie Lösungen zu finden, mit denen sich beide Seiten identifizieren.

Was tut die Kampagne «Liebe Schweiz» für den Zusammenhalt?

Schon vor der Pandemie unternahm die SGG Schritte, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Beispielsweise mit Workshops, an denen kluge Köpfe aller Gesellschaftsbereiche teilnahmen, um mehr Klarheit über die gesellschaftlichen Herausforderungen der nächsten zwanzig Jahren und Reformideen zu erhalten. Deshalb war uns schon früh klar, dass es auf allen Ebenen der Gesellschaft neue, partizipative Dialogformate braucht. Wir wollen Menschen unterschiedlicher Meinungen künftig virtuell und physisch miteinander in Kontakt bringen. Die Kampagne «Liebe Schweiz» ist eine Einladung und Ermutigung an jede und jeden, das Gespräch mit Menschen zu suchen, die andere Meinungen und Haltungen vertreten. Für diesen Appell haben uns viele Menschen persönlich gedankt. Über 35'000 haben diese Kampagne online unterzeichnet und über Social Media verbreitet, um sich für den Zusammenhalt in unserem Land einzusetzen.

Die Zerrüttung war auch in Firmen wahrnehmbar. Wie schwerwiegend war diese?

Derzeit ist schwer abzuschätzen, welche Spannungen oder Spaltungen in Arbeitsteams verbleiben und welche sich wieder abschwächen. Tatsächlich wird unsere Widerstandskraft seit über zwei Jahren gefordert – besonders beim Pflegepersonal, im öffentlichen Verkehr, in der Gastronomie oder der Kultur. Wir sind im Privatleben, aber auch als Arbeitgebende stark betroffen. Viele Spannungen werden sich hoffentlich auflösen, sobald sich die Pandemie in eine Endemie wandelt.

Welche Rolle spielten die Medien bei diesen Zerfallserscheinungen?

Die Medien haben eine zentrale Funktion in unserer Demokratie und Diskussionskultur. Deshalb ist es problematisch, wenn Personen und Gruppen, die extreme Positionen vertreten, mehr Raum gegeben wird als der schweigenden Mehrheit. Etwa, weil polarisierende Positionen spannender wirken oder für mehr Klicks und höhere Einschaltquoten sorgen als konstruktive Aussagen.

Inwiefern ist Zensur eine Lösung, um ein Aufeinanderhetzen zu verhindern?

Meinungsvielfalt ist in allen Medien wichtig. Gleichzeitig gibt es glücklicherweise Gesetze, die nationalistische, sexistische, rassistische und diskriminierende Aussagen verbieten. Dass Meinungen in den Medien zensiert werden, weil sie jemandem weltanschaulich oder politisch nicht in den Kram passen oder weil sie unbequem und kritisch sind, geht jedoch nicht.

Was können Firmenchefs tun, um das Miteinander zu fördern?

Für Vorgesetzte gilt bei allen Fragen und Themen: Sie sollten mit gutem Beispiel vorangehen. Deshalb ist die Empörung verständlich, wenn sich der VR-Präsident einer Grossbank mehrfach über Covid-Bestimmungen hinwegsetzt. Kommunizieren Vorgesetzte Verhaltensregeln fürs Personal, müssen sie sich am konsequentesten daran halten. Vorgesetzte sollten darüber hinaus dafür sorgen, dass der Teamgeist im Homeoffice nicht verloren geht. Wie bei Familien und Paaren, die sich nicht oft sehen, sollten sie für ihre Teams «Qualitätszeit» einplanen, in der nicht alle gemeinsam auf einen Bildschirm starren, sondern etwas miteinander erleben und sich austauschen, beispielsweise bei Apéros, beim Mittagessen oder auf Ausflügen. Das ist nicht gratis, lohnt sich aber.

Was wäre für Sie ein Erfolg?

Wenn neue Dialogformate zwischen Menschen mit unterschiedlichen Meinungen Teil unserer Demokratie werden. Wir müssen gemeinsam lernen, konstruktiv zu streiten.

Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft

Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG) wurde 1810 als Verein gegründet, der 1860 der Eidgenossenschaft das Rütli schenkte, es seither verwaltet und die Bundesfeier am 1. August organisiert. Daneben fördert die SGG Projekte, die den Zusammenhalt in der Schweiz sowie die Freiwilligenarbeit fördern. Beispielsweise mit dem «Seitenwechsel», der die soziale Verantwortung in Unternehmen vorantreibt, oder dem Programm «Job Caddie», mit dem junge Erwachsene durch Unterstützung freiwilliger Mentorinnen und Mentoren in der Arbeitswelt integriert werden. sgg-ssup.ch / liebe-schweiz.ch

 

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Chefredaktorin, HR Today. cp@hrtoday.ch

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