Wilde Bootsfahrt für mehr Agilität
Agilität ist wichtig für die digitale Transformation von Unternehmen – trotz oder gerade wegen der inflationären Verwendung dieser Begrifflichkeit in Unternehmensleitbildern. Viele Firmen tun sich jedoch schwer damit. Worauf es ankommt.
Zwischen Bewegung und Stillstand. (Bild: 123rf)
Warum digitale Transformation scheitert, wenn Agilität fehlt, zeigen prominente Beispiele wie Kodak oder Nokia. Demzufolge dürften Unternehmer annehmen, dass sich ihre Mitarbeitenden, Führungskräfte sowie Geschäftsführer dieser Problematik bewusst sind. Dem ist jedoch nicht so, wie eine in Deutschland durchgeführte, repräsentative Umfrage von «Great Place to Work» mit 1048 Teilnehmenden zeigt. Gemäss dieser besitzen weniger als zehn Prozent der Mitarbeitenden ein agiles Mindset, und über 60 Prozent stehen der Agilität gar kritisch gegenüber.
Konsistentes Verhalten oder der «Live what you Preach»-Gap
Um das agile Mindset umzusetzen, braucht es neben kontinuierlicher Kommunikation der Vision auch ein «Leadership by Example». Nur wenn die Geschäftsführung die Werte des Unternehmens vorlebt, werden sie in der Unternehmenskultur verankert. Das bedingt ein konsistentes Verhalten. Was im Falle einer in John Kotters Buch «Leading by Change» erwähnten Bank nicht zutraf. Dort waren im Zuge einer Transformation Initiativen zur Kostenreduktion umgesetzt worden.
Während Hunderte Mitarbeitende aus Spargründen entlassen wurden, gönnte sich deren Management Privatjets für Geschäftsreisen oder reiste in First-Class-Flügen an Weihnachtspartys. Solche Aktionen kamen bei den Mitarbeitenden denkbar schlecht an. Nur wenn solche Inkonsistenzen vermieden werden, steigen das Verständnis für die Führung und deren Glaubwürdigkeit. Und damit auch die Bereitschaft der Mitarbeitenden, eine Transformation zu unterstützen. Alles Gute kommt eben von oben, so auch die Agilität.
Warum Geschäftsführer Agilität anders einschätzen als Mitarbeitende
Auch wenn Agilität top down gelebt werden muss, heisst das noch lange nicht, dass sie bei den Mitarbeitenden ankommt. Das zeigen weitere Punkte der «Great Place to Work»-Studie, bei der Geschäftsführer die Agilität des Unternehmens mit 65 Prozent bewerten, während es bei den Mitarbeitenden gerade noch 41 Prozent waren. Warum das so ist, zeigen die Antworten zu disruptivem und radikalem Denken. Denn nur drei von zehn Mitarbeitenden finden, dass in ihren Unternehmen radikale Ideen erlaubt sind, während sieben von zehn Geschäftsführern das als gegenteilig wahrnehmen.
Ähnlich unterscheiden sich die Wahrnehmungen bei der Selbsteinschätzung, ob für schnellere Entscheidungen neue Wege beschritten werden dürfen (38 Prozent bei Mitarbeitenden versus 85 Prozent bei Geschäftsführern), und ob auch weniger perfekte Lösungen zugunsten der Geschwindigkeit umgesetzt werden können (42 Prozent bei Mitarbeitenden versus 82 Prozent bei Geschäftsführern).
Unternehmensvision als Wurzel der geringen Agilität?
Um den Gap der Agilität zwischen der Führungsebene und den Mitarbeitenden zu schliessen, braucht es eine Unternehmensvision sowie eine konsistente Arbeitsplatzkultur – die auch effektiv gelebt wird. Das ist oftmals nicht so, wie die Studie weiter zeigt: Gerade 37 Prozent der Mitarbeitenden, 55 Prozent der Führungskräfte sowie 77 Prozent der Geschäftsleitung sind von der Unternehmensvision begeistert. Selbst in der Geschäftsleitung sind nur drei von vier Mitgliedern von der eigenen Unternehmensvision begeistert. Und obwohl diese Zahlen einem Affront gegenüber der gelebten Arbeitsplatzkultur gleichkommen, bleibt sie unverzichtbar, um den digitalen Transformationsprozess zu gestalten und die Mitarbeitenden letztlich für Agilität zu begeistern.
Ein Zufall ist es jedenfalls nicht, dass bei Zalando agile Methoden längst in den Arbeitsalltag integriert wurden, denn deren Unternehmensvision lautet «We re-imagine fashion for the good of all». Sie nennen ihren Ansatz «Radical Agility», der auf gegenseitigem Vertrauen, Sinnhaftigkeit, Autonomie und der persönlichen sowie individuellen Entwicklung von Fertigkeiten basiert. Warum sich andere Unternehmen eine Scheibe davon abschneiden sollten? Nicht nur, weil ihr Bewerbereingang für Entwicklerstellen um 400 Prozent angestiegen ist, sondern auch, weil es alles Punkte sind, die Agilität nicht nur ermöglichen, sondern auch die Zufriedenheit der Mitarbeitenden steigern.
Wie gelebte Arbeitsplatzkultur geschaffen wird
Sich mit der eigenen Unternehmenskultur auseinanderzusetzen, kann zur unbequemen Wahrheit werden. Und doch ist es eine grosse Chance. Denn auch der beste Schuhmacher nützt nichts, wenn er nicht weiss, wo der Schuh drückt. Das gängigste Mittel, um den Puls der Kultur zu fühlen, bleibt dabei die Befragung der Mitarbeitenden. Mit einer validen Methodik liefert sie Ergebnisse, die den Blick für Handlungsbedarf öffnet. Beispielsweise zeigen die Daten der «Great Place to Work»-Mitarbeitendenbefragungen, dass in Unternehmen, die als hervorragende Arbeitgebende ausgezeichnet wurden, drei Viertel der Mitarbeitenden gerne zur Arbeit gehen, während es bei den nicht ausgezeichneten gerade einmal 50 Prozent sind.
Ein Unternehmen, das mitten in der Transformation steckt, ist Vebego. Das Reinigungsunternehmen mit 75-jähriger Firmengeschichte startete mit drei Mitarbeitenden und wuchs auf über 35 000 an. Obwohl bis dato alles im Unternehmen funktioniert hat, ist eine Transformation aufgrund des sich schnell verändernden Marktumfelds unabdingbar geworden. Gestartet hat die Transformation der neu eingesetzte CEO Guiseppe Santagada. Er wollte vor allem «Drive», «Dynamik» und einen «Winning-Spirit» etablieren: «Mein Ziel war, unsere Kultur zu revitalisieren, um den Change of Mindset, wie ich unser Transformationsprojekt benannt hatte, umzusetzen und uns agiler aufzustellen.» Und wer Ziele setzt, will diese auch überprüfen. «Betrachtet man die Resultate der ‹Great Place to Work›-Umfrage, so kann ich mit gutem Gewissen sagen, dass die Hauptbotschaften angekommen sind und die Sinnhaftigkeit hinter der Transformation verstanden und mitgetragen wird», beantwortet Santagada die Frage, ob das neue Mindset bei den Vebego-Mitarbeitenden greift.
Aktive Innovatoren, Optimisten, Beständige und Pessimisten
Eine Transformation ohne passendes Mindset wird schwierig. Das liest sich auch aus der repräsentativen Studie heraus, die vier verschiedene Mindsets von Agilitätstypen identifizierte – geordnet nach Zuversicht für eine Zukunft mit veränderten Rahmenbedingungen: Aktive Innovatoren, Optimisten, Beständige und Pessimisten. So sind aktive Innovatoren bereits mit einem agilen Mindset ausgestattet und scheuen sich nicht vor Veränderung. Sie sehen Fehler und Feedback als Lernchancen, um Herausforderungen und Probleme zu lösen.
Optimisten sind ebenfalls offen für Veränderung, doch erarbeiten sie weniger disruptive Lösungsansätze wie aktive Innovatoren. Auch sie teilen ihr Wissen und ihre Erfahrungen. Beständige hingegen befürchten, dass ihr Wissen an Wert verliert und scheuen deswegen Veränderungen. Entsprechend skeptisch stehen sie im Vergleich zu aktiven Innovatoren und Optimisten der Bewältigung von künftigen Herausforderungen gegenüber.
Die Pessimisten gehen noch einen Schritt weiter, da sie nicht glauben, dass es fundamentale Veränderungen im Geschäft gibt, und sehen deshalb auch keine Notwendigkeit zur Anpassung. Innovationen werden von ihnen nicht angestrebt, da Veränderungen als Bedrohung eingestuft werden. Genauso wenig wollen sie ihr Wissen teilen, da Wissen für sie Macht bedeutet. Damit der Prozess der Transformation gut funktioniert, müssen entsprechend die aktiven Innovatoren und Optimisten identifiziert und als Botschafter eingesetzt werden.
Vebego-CEO Santagada hat deshalb eine Gruppe von Ambassadoren aufgebaut, die wichtige Transformationsthemen in die Organisation tragen und repräsentieren. Ausserdem hat Santagada die Geschäftsleitung komplett neu zusammengestellt: «Für eine solche Transformation brauchen wir Leader, die diese herausfordernde, aber unglaublich spannende Reise mit Kopf und Herz mitgehen. Man kann das mit einem Zug vergleichen, der mit einer bestimmten Geschwindigkeit unterwegs ist: Wir werfen niemanden von Bord, aber aufspringen muss jeder selber.»
Vertrauen, Sinnhaftigkeit, Autonomie und persönliche Entwicklung
Zusammengefasst: Der Weg zur Agilität ist nicht leicht. Im Gegenteil, er lässt sich eher mit River-Rafting auf einem Floss vergleichen. Manchmal gibt es Stromschnellen, Felsen und seichte Gewässer. Um diese Herausforderungen zu meistern, braucht es eine motivierte Crew, die weiss, warum sie am selben Strick zieht, und die zuversichtlich ist, sicher am Ziel anzukommen. Und nicht zu vergessen die Seile, die das Floss zusammenhalten: Teilweise unter Wasser, teilweise sichtbar, sind sie das Fundament der Reise – genau wie eine gute Arbeitsplatzkultur.
Die Studie
Die Studie «Change Engine While Flying» wurde zur Messung der Agilität entwickelt. Der Fragebogen mit 55 Fragen wurde in einem Panel durchgeführt, an dem 1048 Personen teilnahmen. Die Studie kann hier heruntergeladen werden: