Andi Zemp
Zugegeben, ich bin ein Digital Immigrant und habe dadurch den Umgang mit elektronischen Hilfsmitteln wie E-Mails und Smartphones erst im Verlauf des Berufslebens kennengelernt. Nicht ständig erreichbar zu sein, war in meiner Sozialisation selbstverständlich. Mittlerweile leben wir in einer Zeit der ständigen Erreichbarkeit und permanenten digitalen Vernetzung.
«App-schalten» wird für viele Menschen zum neuen Luxus; Erholungs- und Wellness-Angebote in handy- und internetfreien Zonen boomen. Die ständige Erreichbarkeit und das geforderte Multitasking sind keine Folge der technischen Möglichkeiten, sondern der Logik unserer Zeit geschuldet. Um unser System erhalten zu können, braucht es eine kontinuierliche Steigerung: materielle Güter, Kunden und Umsätze. Optionen zur Weiterentwicklung eines Unternehmens lassen sich grenzenlos vermehren. Die verfügbare Zeit dagegen bleibt immer gleich, weshalb eine Steigerung nur durch verdichtetes Arbeiten geschehen kann.
In der Wahrnehmung des Einzelnen vergeht die Zeit deshalb immer schneller. Mitarbeitende fühlen sich unfähig oder gar schuldig, da die To-do-Liste niemals abgearbeitet ist und immer wieder neue Aufgaben auftauchen. Der potenziell mögliche Zuwachs an Zeitsouveränität durch die Digitalisierung wird durch die Zeitverdichtung zunichte gemacht. Die Folge ist eine Vermischung zwischen Arbeit und Freizeit, was es den Mitarbeitenden erschwert, sich zu erholen. Dies kann zu Beziehungsproblemen führen, wenn die Zeit mit Freunden und Familie ständig durch die Arbeit unterbrochen wird. Probleme innerhalb der Familie wiederum haben einen negativen Einfluss auf die Arbeits- und Leistungsfähigkeit. Dauert dies lange genug an, steigen Fehlerquoten, Absentismus sowie Präsentismus. Am Ende drohen stressverursachte Störungen und Burnout.
Ständig für den Arbeitgeber erreichbar zu sein, wird von vielen Arbeitnehmenden jedoch gar nicht gewünscht. Es ist vielmehr ein Teil der Unternehmenskultur, in der dauerndes «Online-Sein» als hohes Engagement oder gar als Qualitätszeichen missinterpretiert wird. Wer sich nicht an solche Vorgaben hält, beraubt sich möglicherweise seiner beruflichen Karriere. Der Versuch, gut und schnell über aktuelle Entwicklungen informiert zu sein, mag ein individueller Treiber sein. Dies geschieht einerseits aus der Angst, «abgehängt» zu werden, andererseits in der Hoffnung, sich berufliche Vorteile zu ergattern. Einzelne Mitarbeitende wiederum nehmen sich zu wichtig und denken, sie seien unersetzbar.
Ohne ausreichende Erholung droht der technische Fortschritt zum «rasenden Stillstand» zu werden. Die Trennung von Arbeit und Freizeit kann nur erfolgreich sein, wenn das Unternehmen dies einfordert und sich alle daran halten, indem abends oder am Wochenende keine E-Mails an Mitarbeitende versandt werden.