Flexible Arbeit und soziale Absicherung
Gemäss dem Bundesamt für Statistik sind die drei wichtigsten Faktoren, weshalb jemand eine Plattform nutzt, die Erwirtschaftung eines zusätzlichen Einkommens sowie die zeitliche Flexibilität und die örtliche Flexibilität der Arbeit. Wie wird aber die soziale Absicherung garantiert?
Flexibilität und soziale Absicherung dürfen sich nicht ausschliessen. (Bild: Umit Yildirim/Unsplash)
Aktuell wird diskutiert, ob es sich bei Dienstleistungserbringern um Selbständige handelt oder nicht. Die geltenden Qualifikationskriterien des Arbeitsvertrags in unserer digitalisierten Arbeitswelt gewährleisten kaum mehr eine taugliche Abgrenzung zwischen Arbeits- und sonstigen Dienstleistungsverträgen. Die Kriterien, welche die Gerichte bei der Urteilsfindung verwenden, werden den Herausforderungen der digitalisierten Arbeitswelt nicht mehr gerecht.
Daher ist fraglich, inwiefern es sinnvoll ist, die Zweiteilung zwischen Arbeitsverträgen und anderen Dienstleistungsverträgen in den Fokus der Debatte zu stellen. Die Diskussion wird so lange an dieser Abgrenzung geführt werden, wie der Sozialschutz vor allem durch das klassische Arbeitsvertragsrecht erbracht wird. Die klassischen Instrumente des Arbeitnehmerschutzes und der sozialen Sicherheit greifen bei Plattformarbeit nur teilweise. Es ist aber durchaus nicht zwingend, den aktuell grossen diesbezüglichen Unterschied zwischen Arbeitnehmern und anderen Dienstleistungserbringern aufrecht zu erhalten.
Die zentrale Frage sollte deshalb nicht sein, ob Plattformen Arbeitgeberinnen sind oder nicht, sondern: Wie können wir sicherstellen, dass sämtliche Dienstleistungserbringer gegen soziale Risiken abgesichert sind, wie Unfall oder Alter? Es sind neue oder weiterentwickelte innovative Lösungsansätze erforderlich, die Flexibilität und soziale Absicherung verbinden. Diese Ansätze sollen das Entstehen innovativer Plattformen ermöglichen, gleichzeitig jedoch für faire Arbeitsbedingungen sorgen sowie geltende Gesetze nicht unterlaufen. Zwei Lösungsansätze scheinen mir sinnvoll: der Rechtsschutz über die Sozialpartnerschaft und die Übertragung des Temporärarbeit-Modells auf die Plattform-Ökonomie.
Rechtsschutz über die Sozialpartnerschaft
Die Sozialpartner sind aufgrund der Nähe zu den Unternehmen und den Arbeitnehmern prädestiniert, die Herausforderungen der neuen Arbeitswelt zu bewältigen. Hierfür ist wichtig, die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen zu stärken, auf Arbeitnehmerseite zu einer repräsentativen Sozialpartnerschaft zurückzufinden und den GAV-Abdeckungsgrad zu steigern. Die Entstehung neuer Arbeits- und Erwerbsformen findet vielfach ausserhalb dieser Interessensgruppen statt.
Die grösste Herausforderung für die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen wird sein, den Strukturwandel zu begleiten, den die Digitalisierung mit sich bringt und darauf zu achten, dass die Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz vorangetrieben werden, während die Arbeitnehmer geschützt, gefördert und nicht überfordert werden. Dabei sollte sich die Sozialpartnerschaft bei einer Anpassung des institutionellen Rahmens an die neue Arbeitswelt sowohl an der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen als auch an den unmittelbaren Bedürfnissen der Arbeitnehmer orientieren.
Das Verhandeln über die unklaren Aspekte der neuen Arbeitswelt ist arbeitsrechtlicher Natur. Die Unterlegenheit des Individuums wird durch das Kollektiv und das kollektive Auftreten ausgeglichen. Das kollektive Verhandeln und der Abschluss eines Gesamtarbeitsvertrags erlauben eine niederschwellige, demokratisch legitimierte Mitgestaltung der Arbeitsbedingungen.
Durch die Entstehung neuer Arbeits- und Erwerbsformen ist für die Sozialpartner teils unklar, ob eine selbständige Arbeit oder nicht vorliegt. Ob auch arbeitnehmerähnliche Personen unter den Schutz eines Gesamtarbeitsvertrags gestellt werden können, ist umstritten. Für Selbständige sind in der Praxis, beispielsweise im ICT- und Logistiksektor, Ansätze mit besonderen Dienstleistungspaketen durch die Sozialpartner erkennbar.
So hat zum Beispiel Deliveroo im Mai 2022 in Grossbritannien eine historische Vereinbarung mit der Gewerkschaft GMB Union über die Anerkennung der Gewerkschaft für mehr als 90'000 selbständige Fahrerinnen und Fahrer des Essenslieferdienstes unterzeichnet. Die freiwillige Tarifvereinbarung sieht vor, dass GMB den Fahrerinnen und Fahrern das Recht auf Tarifverhandlungen über Löhne und Gehälter sowie auf Konsultationen zu Sozialleistungen und anderen Themen einräumt, einschliesslich Gesundheit, Sicherheit und Wohlbefinden. GMB wird einzelne Fahrerinnen und Fahrer, die GMB-Mitglieder sind, bei Streitigkeiten vertreten, was ihnen eine stärkere Stimme verleiht. Die Vereinbarung erkennt Deliveroo-Fahrerinnen und -Fahrer als selbständig an, nachdem eine Reihe von britischen Gerichtsurteilen diesen Status bestätigt hat.
Solche Tarifvereinbarungen sind ein innovatives Konzept für Selbständige im Plattformsektor. Die Berufsorganisationen der selbständigen Erwerbstätigen (Ingenieure, Informatikerinnen etc.) könnten zu Sozialpartnern werden, die ihren Mitgliedern massgeschneiderte Dienstleistungen anbieten, die spezifische Interessen dieser Personen gegenüber den Auftraggeberinnen wahrnehmen und den sozialpartnerschaftlichen Dialog führen. Die Sozialpartnerschaft kann so Flexibilität und soziale Sicherheit für neue Arbeits- und Erwerbsformen gewährleisten.
Übertragung des Temporärarbeit-Modells auf die Plattform-Ökonomie
Das für die private Personalvermittlung relevante Arbeitsvermittlungsgesetz könnte in der Entwicklung der Plattformarbeit eine Schlüsselfunktion einnehmen, es regelt die Temporärarbeit. Temporärarbeit ist eine flexible Arbeitsform, der eine dreieckige Vertragsstruktur zugrunde liegt.
Zwischen Personaldienstleisterinnen und Arbeitnehmern besteht ein Arbeitsvertrag. Damit ist die Personaldienstleisterin gesetzliche Arbeitgeberin des Arbeitnehmers. Sie übernimmt alle HR-Aufgaben rund um die Anstellung. Dazu zählt im Fall der Temporärarbeit die vollständige arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Absicherung der Temporärarbeiter. Diese stellen ihre Arbeitskraft in den Dienst eines Einsatzbetriebs. Dessen Weisungskompetenz wird durch den Verleihvertrag zwischen Personaldienstleisterinnen und Einsatzbetrieb geregelt. Dank der HR-Kompetenz der Personaldienstleisterinnen ist es möglich, kurzfristig, flexibel und ohne komplizierten Aufwand Mitarbeiter einzustellen.
Dieses geltende Modell ist auf die Plattform-Ökonomie übertragbar. Konkret schliesst eine Plattform mit den Crowdworkern einen Arbeitsvertrag ab, der den sozialversicherungsrechtlichen Schutz gewährleistet und dem geltenden GAV-Personalverleih sowie dem Personalvermittlungsgesetz unterstellt ist (beispielsweise angewendet von den Plattformen Adia und Coople mit Verantwortung als Arbeitgeberin für die Crowdworker). Dieser Lösungsansatz besitzt Zukunftspotenzial und ist eine interessante Option für Plattformen, die sich in einem rechtlich unklaren Bereich bewegen.
Eine punktuelle Modernisierung des Arbeitsvermittlungsgesetzes ist allerdings notwendig, um neue Arbeitsmodelle zu ermöglichen und diese Formen besser abzusichern. Das könnte durch die Aufhebung des starren Schriftformerfordernisses (Einführung einer digitalen Unterschrift) und durch eine flexiblere Ausgestaltung der Arbeitszeiten bewerkstelligt werden. Das wäre der bessere Ansatz, als Plattform-Geschäftsmodelle zu verunmöglichen und alle Betroffenen zurück in die Schwarzarbeit oder die Selbständigkeit ohne soziale Absicherung zu drängen. Flexibilität und soziale Absicherung dürfen sich nicht ausschliessen.