HR Today Nr. 10/2022: Arbeit und Recht - Urteil

Wann ist eine Kündigung trotz Arztzeugnis gültig?

Ein Hausmeister wehrte sich gegen seine Kündigung, weil er zu diesem Zeitpunkt krankheitsbedingt arbeitsunfähig gewesen sei. Trotz vorhandenem Arztzeugnis sprach das Bundesgericht dem Arbeitgeber recht. Das Urteil zeigt, in welchen Fällen Zweifel angebracht ist.

BGE 8C_607/2021, Urteil vom 19. Januar 2022

Das Urteil

Arbeitnehmer A. war seit 1. August 2018 als Hausmeister bei einer Primarschulgemeinde tätig. Am 30. März 2020 kündigte diese das Arbeitsverhältnis per 31. Mai 2020. A. machte geltend, die Kündigung sei nichtig, da er zum Kündigungszeitpunkt krankheitsbedingt arbeitsunfähig gewesen sei. Er berief sich dabei auf ein am 1. April 2020 ausgestelltes Arztzeugnis, das ihm von 20. Februar bis 9. April 2020 eine vollständige Arbeitsunfähigkeit bescheinigte.

Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die Vorinstanz nicht willkürlich entschieden hatte, indem sie eine krankheitsbedingte Arbeitsverhinderung von A. am Tag der Kündigung verneinte und die Gültigkeit der Kündigung bejahte:

Die Vorinstanz wies in ihrer Beweiswürdigung vorab auf den Umstand hin, dass das relevante Arztzeugnis am 1. April 2020 und somit erst zwei Tage nach der Kündigung ausgestellt worden war. Schon aus diesem Grund konnte nach Ansicht der Vorinstanz nicht vorbehaltlos auf das Zeugnis abgestellt werden. Die bestehenden Zweifel wurden zudem dadurch verstärkt, dass der betreffende Arzt offenbar bereits in der Vergangenheit Zeugnisse ereignisbezogen (für den Zeitraum geplanter beziehungsweise angeordneter Ferien von A.) ­ausgestellt hatte.

Zwar war unbestritten, dass A. im Februar und März 2020 aufgrund verschiedener gesundheitlicher Probleme wiederholt arbeitsunfähig und dreimal hospitalisiert gewesen war. Da­raus konnte gemäss Vorinstanz aber nicht abgeleitet werden, dass A. auch am 30. März 2020 arbeitsunfähig gewesen war. Einerseits hatte A. zwischen seinen krankheitsbedingten Abwesenheiten nämlich jeweils gearbeitet und andererseits hat er gegenüber seinen Arbeitskollegen am 25. März 2020 angekündigt, dass er nach einer Krankschreibung bis zum 29. März 2020 ab dem 30. März 2020 wieder arbeiten werde. Gegenüber seinem Vorgesetzten hatte A. ferner weder am 28. März 2020, als er mit ihm einen Gesprächstermin für den 30. März 2020 vereinbarte, noch am Kündigungstag selbst geltend gemacht, er sei immer noch arbeitsunfähig.

Die Vorinstanz kam deshalb gemäss Bundesgericht willkürfrei zum Schluss, dass das vorgelegte Arztzeugnis vom 1. April 2020 nicht als Beweis für die behauptete krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit von A. im Kündigungszeitpunkt taugte.

Konsequenz für die Praxis

Obwohl Arztzeugnissen in Streitigkeiten betreffend den zeitlichen Kündigungsschutz von den Gerichten grosse Bedeutung zugemessen wird, zeigt der vorliegende Entscheid, dass Arztzeugnissen kein absoluter Beweiswert zukommt. Vermag der Arbeitgeber begründete Zweifel an einem Arztzeugnis zu wecken, kann sich das Gericht auch darüber hinwegsetzen.

Umstände, die ein Arztzeugnis in Frage stellen können, sind etwa rückwirkende Krankschreibungen um mehrere Tage, Verhaltensweisen des Arbeitnehmenden, die im Widerspruch zur bescheinigten Arbeitsunfähigkeit stehen, behauptete Arbeitsverhin­derungen unmittelbar vor oder nach einer Kündigung oder die Verweigerung einer vertrauensärztlichen Untersuchung. Wie der vorliegende Fall zeigt, kann es sich aus Arbeitgebersicht durchaus lohnen, ein vorgelegtes Arztzeugnis einer genaueren Prüfung zu unterziehen und eine vom Arbeitnehmenden behauptete Arbeitsunfähigkeit zu hinterfragen – insbesondere, wenn sie in engem zeitlichem Zusammenhang mit einer Kündigung steht.

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Sonja Stark-Traber, lic. iur., LL.M., ist als Rechtsanwältin in der Wirtschaftsanwaltskanzlei Suter Howald Rechtsanwälte in Zürich tätig, mit Schwerpunkten im Bereich Prozessführung, Arbeits- und Vertragsrecht. Kontakt: sonja.stark@suterhowald.ch

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