Das Qualitätsdilemma im Recruiting
Rekrutierungsprozesse müssen im vorherrschenden Arbeitnehmermarkt attraktiv, kurz und einfach sein. Gleichzeitig werden Jobs immer anspruchsvoller und komplexer. Die Qualitätsfrage darf in der Rekrutierung jedoch nicht auf der Strecke bleiben. Doch wie gelingt es, diesen Spagat zu meistern?
Was ist wichtiger: Die Stelle möglichst schnell zu besetzen, oder mehr in die Suche nach der «perfekten» Fachkraft zu investieren? (Bild: iStock)
Die Verlockung ist gross, in der Personalselektion nicht mehr genau hinzuschauen – denn der Druck, offene Stellen überhaupt zu besetzen, ist immens: althergebrachte Rekrutierungsprozesse funktionieren nicht mehr. Auf das ausgeschriebene Stelleninserat gibt es kaum noch Reaktionen und wenn, dann oft von ungeeigneten Bewerbenden. Die Personalgewinnung wird immer schwieriger. Die Verhandlungsmacht hat sich verschoben.
Mit teuren Hochglanz-Employer-Branding-Kampagnen, hochtrabenden Claims und mehr oder weniger schnittigen Versprechen, machen Firmen einen Pfauentanz und buhlen um die Talente von morgen. Dabei wird die Candidate Experience immer wichtiger: Dafür werden HR-Prozesse vereinfacht, verkürzt und Kandidaten-Touch-Points modernisiert.
Im gleichen Zuge hinterfragt man etablierte Instrumente wie eignungsdiagnostische Testverfahren, Interviews oder Assessments kritisch. Denn aus der Kandidatinnen- und Kandidaten-Perspektive stellen diese ein vermeintliches Hindernis für einen raschen, ansprechenden Bewerbungsprozess dar, der mit Anstrengung und Aufwand verbunden ist. Der naheliegendste – und gleichzeitig gefährliche – Schluss wäre, die Hürden für Bewerbende generell möglichst tief zu halten und auf fundierte und aussagekräftige Rekrutierungsinstrumente zu verzichten. Aber das ist nur eine Seite der Medaille.
Risiko einer Fehlbesetzung
«Hauptsache wir haben jemanden»: Der Reflex eine offene Stelle mit irgendjemandem zu besetzen, ist zwar nachvollziehbar, birgt allerdings auch Risiken. In der aktuellen Diskussion rund um den Arbeitnehmermarkt wird nämlich oft übersehen, dass die Anforderungen an Mitarbeitende und Führungskräfte signifikant gestiegen sind und künftig weiter steigen.
Wer bei wichtigen Personalentscheidungen Kompromisse macht und sich vor allem auf das Prinzip Hoffnung verlässt, geht das Risiko von Fehlbesetzungen ein. Diese sind nicht nur enorm teuer – als Faustregel kann man von ein bis zwei Jahresgehältern ausgehen – im Arbeitnehmermarkt ist die erneute Wiederbesetzung auch zeitlich und personell mit immensem Aufwand verbunden. Dass man bei weniger Bewerbenden, nicht mehr genau hinschauen muss, ist zudem ein Trugschluss. Statistisch lässt sich relativ einfach zeigen, dass gerade bei weniger qualifizierten Bewerbungen ein besonderes Augenmerk auf die Selektion gelegt werden muss, da sonst das Risiko für Fehlbesetzungen signifikant steigt (vgl. Taylor-Russell-Modell).
Assessments bei wenigen Bewerbenden
Im Zuge der technologischen Weiterentwicklung kommen im Online Assessment-Bereich laufend neue Tools auf den Markt. Diese versprechen automatisierte, einfache Lösungen wie automatisierte Videointerviews oder Persönlichkeitsprofile anhand von Stimmanalysen. Um den Spagat zwischen Attraktivität und Qualität zu schaffen, wird mit AI, Algorithmen und Robots geworben. Dass damit oft auch rechtliche und moralische Fragen ungeklärt sind, wird allerdings ausgeblendet. Den Überblick zu bewahren und verschiedene Verfahren zu vergleichen, ist für Anwendende und HR-Verantwortliche fast unmöglich geworden.
Zusammen mit der Universität Zürich entwickelte Avenir deshalb ein Framework. Dafür wurden die Praktikabilität (= Attraktivität) als auch die Wissenschaftlichkeit (= Qualität) unterschiedlicher Verfahren (Persönlichkeitstests, Leistungstest, Videointerviews, gamified assessments) evaluiert und miteinander verglichen. Zwei wichtige Erkenntnisse daraus:
- Es gibt eine grosse Varianz: Zahlreiche Verfahren, die auf beiden Dimensionen gut abschneiden und andere, von denen man besser die Finger lässt
- Neuartige Verfahren schneiden insgesamt sehr viel schlechter ab als etablierte (sowohl hinsichtlich Praktikabilität als auch Wissenschaftlichkeit)
Personalselektionsqualität bleibt also auch in Zeiten des Arbeitnehmermarktes das zentrale Kriterium. Zugunsten einer vermeintlich besseren Candidate Experience auf Assessment-Instrumente zu verzichten, ist kurzsichtig und risikobehaftet. Entscheidend ist vielmehr, die richtigen Instrumente einzusetzen. So existieren durchaus Tools, die sowohl in Sachen Qualität als auch positiver Candidate Experience gut abschneiden.