«Wir haben kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem»
Der Arbeitsmarkt befindet sich in einem rasanten Wandel, doch die Unternehmenspolitik hinkt der Entwicklung hinterher, findet Gero Hesse. Der New-Work-Spezialist und Keynote-Speaker am HR FESTIVAL europe über Vertrauenskultur, Mindset Change und Megatrends.
«Schaffen wir den Sprung von der in vielen Organisationen vorhandenen Misstrauens- zur Vertrauenskultur?» Diese Frage stellt sich Gero Hesse, Keynote-Speaker am HR Festival 2023.
Sie setzen sich seit 2009 mit Ihrem Blog «Saatkorn» für eine «bessere Arbeitswelt» ein. Wie sieht diese aus?
Gero Hesse: Technologischer, datengetriebener und vor allem menschlicher. Ich erlebe im HR-Bereich noch zu viele Berührungsängste, wenn es um die Kombination von Data, Tech und Purpose geht. Für mich ist zentral, dass der Mensch auch künftig die Hauptrolle spielt und entscheidet, welche Daten wie gesammelt und genutzt werden oder welche Technologie eingesetzt wird. Dass wir heute in vielen Berufsbildern selbst entscheiden können, wann und wo wir arbeiten, ist zumindest technologisch gegeben. Ein Segen: Die individuellen und organisationalen Bedürfnisse lassen sich viel besser regeln als früher.
Viertagewoche, Homeoffice à gogo, schöne neue Bürowelten – wie nahe sind wir diesem Ideal?
Es ist spannend zu sehen, wie unterschiedliche Arbeitgebende damit umgehen. Manche scheinen tatsächlich zu denken, dass man die Zeit wieder zurückdrehen oder die Arbeitnehmenden zwingen kann, an mindestens zwei Tagen physisch im Büro zu sein, obwohl es gar nicht nötig wäre. Ich glaube, die Büchse der Pandora wurde geöffnet und wird sich so schnell nicht schliessen. Der Grund dafür sind die Machtverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt. Wir erleben gerade einen Paradigmenwechsel von Arbeitgeber- hin zu Arbeitnehmermärkten. Demografie, Digitalisierung und Wertewandel führen dazu, dass sich bis mindestens 2030 die Bedingungen für Arbeitgebende deutlich verschärfen. Insofern ist meines Erachtens die wichtigere Frage: Schaffen wir den Sprung von der in vielen Organisationen vorhandenen Misstrauens- zur Vertrauenskultur? Am Ende entscheidet für die meisten Bewerbenden, welche Unternehmenskultur in einer Organisation gelebt wird. Dass die Bezahlung, die Benefits und die Entwicklungsmöglichkeiten passen müssen, dürfte vermehrt zum Hygienefaktor und somit als selbstverständlich vorausgesetzt werden.
Gero Hesse
Gero Hesse ist ein Experte für Employer Branding, Recruiting, HR-Start-ups und New Work und CEO von Embrace. Mit seinem ausgezeichneten Blog und Podcast Saatkorn (saatkorn.com) inspiriert er HR-Fachkräfte seit 2009 für eine bessere Arbeitswelt. Derzeit plant er das #RC23 Festival unter dem Motto «Open your Mind to Recruit and Retain», das am 6. und 7. Juni 2023 in Berlin stattfindet. rc23.de
Wo gibt es den grössten Handlungsbedarf?
Im Mindset-Change auf dem C-Level in Organisationen. Dass wir vom Fachkräfte- in den Arbeitskräftemangel rutschen, ist die kleinere Herausforderung. Die grössere ist, das eigene Handeln anzupassen. Wir haben meist kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem. Und das verstehe ich, weil viele Entscheiderinnen und Entscheider in ganz anderen Arbeitsmarktzeiten beruflich sozialisiert wurden und sowohl die quantitative als auch die qualitative Zahl der Bewerbungen nie ein Problem waren.
Sie beschäftigen sich auch mit HR Tech. Was sind die Megatrends?
Der grösste Trend ist die Entwicklung des Bereichs. Ich beschäftige mich seit 2018 mit dem Themenfeld HR-Start-ups und bin darüber immer mehr in die HR-Tech-Szene gerutscht, da die meisten Start-ups technologiegetrieben sind. Einmal im Quartal bringe ich eine Übersicht zum Thema auf Linkedin heraus. Der letzte Post wurde von sehr vielen Menschen kommentiert und geteilt. Inhalt war eine Grafik mit 316 HR-Tech-Unternehmen im DACH-Raum. Viele dieser Unternehmen sind jünger als fünf Jahre: In den letzten Jahren ist im Bereich Retention besonders viel Neues entstanden, zudem rund um die Themen Health, Benefits, Feedback und Education. Ich glaube, Retention – das Halten der vorhandenen Mitarbeitenden – wird uns in den nächsten Jahren aber noch mehr beschäftigen als Recruiting.
Welche Rolle wird Artificial Intelligence im HR spielen?
Eine grosse, allerdings oft nicht auf den ersten Blick sichtbare Rolle. Viele neue HR-Tech-Player haben künstliche Intelligenz im Maschinenraum inkludiert. Etwa bei Matchingprozessen oder bei der Sammlung und Verarbeitung von Daten. Insofern ist künstliche Intelligenz nichts Neues. Wir leben schon damit. Daneben gibt es die aktuelle Diskussion um ChatGPT sowie AI-generierte Grafiken und Bilder. Was ChatGPT angeht, bin ich gleichzeitig begeistert und erschrocken, wie gut die Anwendung bereits funktioniert.
Ein Beispiel?
Bleiben wir bei ChatGPT und der Erstellung von Stellenanzeigen. Das gelingt mit dem Tool schon jetzt gut, da muss man als Redaktionsmitarbeitende nicht mehr ganz so viel tun. Allerdings stelle ich mir die Frage, wo noch Unterschiede bestehen, wenn alle diese Anwendungen nutzen. Kommt dann nicht oft das Gleiche dabei heraus? Wo gibt es bei der Texterstellung einer Stellenanzeige noch einen qualitativen Unterschied? Ich glaube, dass der Mensch diesen beisteuern kann. Natürlich nicht in derselben Rolle wie zuvor, als Ersteller des Gesamttextes, eher als Qualitätskontrolleur und als Veredler AI-generierter Texte.
In Ihren Blogs und Podcasts sprechen Sie verschiedene Themen an, unter anderem das Recruiting, und sagen, dass sich das Berufsbild des Recruiters gewaltig ändern werde. Was macht ein Recruiter im Jahr 2030?
Technologie bestmöglich nutzen, damit mehr Zeit für den qualitativen Austausch mit der Fachabteilung und den Bewerbenden bleibt. Repetitive, administrative Aufgaben werden dagegen häufiger von Technologie übernommen. Das gilt im Übrigen auch für die Retention: Durch die Ablösung administrativer Aufgaben durch Technologien können sich HR-Teams besser um die Mitarbeitenden kümmern. Darauf wird es zunehmend ankommen.
Was sind Ihre weiteren Pläne für Saatkorn?
Einfach weitermachen. Ideen für die Entwicklung habe ich viele, aber mein Hauptjob ist ja nicht Saatkorn, sondern Embrace, die zu Bertelsmann gehörende Agentur für Employer Branding & Recruiting, sowie mehr HR-Tech-Angebote wie Ausbildung.de oder meinpraktikum.de. Bei Embrace wird dieses Jahr zudem noch eine ganze Menge passieren. Worüber sprechen Sie am HR FESTIVAL europe? «Employer Branding: Ruhe in Frieden» wird meine Keynote auf dem HR FESTIVAL europe sein.
Worum geht es?
Nichts ist, wie es vor drei Jahren war. Viele Menschen erleben seit Corona eine komplett andere Arbeitswelt. Die Digitalisierung schreitet mit verrücktem Tempo voran. Und: Der Paradigmenwechsel ist am Arbeitsmarkt angekommen, mit fundamentalen Konsequenzen für die Arbeitgeberkommunikation, die individueller werden muss. Gibt es überhaupt eine Zukunft für Employer Branding? Oder braucht es ein grundlegendes Employer Re-Branding?
HR FESTIVAL europe 2023
Keynote «Employer Branding: Ruhe in Frieden»
mit Gero Hesse (presented by Onlyfy)
29. März 2023, 9 bis 10 Uhr
Main Stage, Halle 6
Diese Keynote wird auf Deutsch gehalten und simultan auf Englisch und Französisch übersetzt.
Kostenlose Tickets erhältlich auf hrfestival.ch