«Wir klagen auf hohem Niveau»
Mit «Altersarbeit in den Kinderschuhen» hat der Think-Tank Avenir Suisse eine Studie vorgelegt, welche die Situation älterer Arbeitnehmer in der Schweiz beleuchtet. Autor Jérôme Cosandey über Altersdiskriminierung und eine altersneutrale HR-Politik.
Jérôme Consandey, Projektleiter, Avenir Suisse: «Eine verzerrte Wahrnehmung schürt bei älteren Arbeitnehmern Ängste und liefert Arbeitgebern eine Rechtfertigung dafür, Ältere nicht anzustellen.»
Herr Cosandey, wie steht es um das Image von älteren Mitarbeitern in der Schweiz?
Jérôme Cosandey: Wir müssen zwischen zwei Gruppen unterscheiden: denjenigen, die eine Arbeitsstelle haben, und jenen, die einen Job suchen. Während Erstere in den Unternehmen im Generationenmix gut integriert sind und wertgeschätzt werden, stossen ältere Stellensuchende im Bewerbungsprozess oft auf Vorurteile und Skepsis. Vor allem dann, wenn sie schon länger auf Stellensuche sind und dies die Frage aufwerfen kann, ob mit ihrem Lebenslauf etwas nicht stimmt. Hinzu kommt, dass viele Recruiter jünger sind und sich eher mit Gleichaltrigen identifizieren als mit jemandem, der über fünfzig Jahre alt ist. Der Reflex ist deshalb gross, Jüngeren den Vorzug zu geben.
Woher stammen diese Vorurteile?
Jeder hat positive und negative Erfahrungen mit älteren Menschen gemacht. Es sind jedoch extreme Fälle, die unser Bild der Senioren prägen: etwa jenes von schwerkranken Leuten, die im Betrieb lang ausgefallen sind, obwohl ältere Mitarbeiter in der Regel weniger oft krank sind als jüngere. Solche Vorurteile sind schwer aus den Köpfen zu bringen.
Müssen ältere Arbeitnehmer vermehrt um ihre Stelle fürchten?
Manche Märkte schrumpfen oder befinden sich in einem Umbruch – etwa der Bankensektor. Das bringt natürlich mehr Kündigungen mit sich, auch von älteren Mitarbeitern.
Wie schlimm ist die Situation älterer Jobsuchender tatsächlich?
Bisher sind Ältere weitaus weniger oft von Arbeitslosigkeit betroffen als Jüngere. Allerdings nähert sich die Arbeitslosenquote der Senioren der durchschnittlichen Quote an – die im internationalen Vergleich nach wie vor sehr tief ist. Wir klagen also immer noch auf hohem Niveau. Zudem berichten die Medien oft über tragische Schicksale im Sinne von «Immer noch kein Job, trotz 300 Bewerbungen». Über den Senior, der sofort eine Stelle findet, schreibt keiner. Das zementiert eine verzerrte Wahrnehmung, die bei älteren Arbeitnehmern Ängste schürt und Arbeitgebern eine Rechtfertigung dafür liefert, Ältere nicht anzustellen, weil das andere Unternehmen vermeintlich auch nicht tun.
Wenn es zu Entlassungen kommt: Wie grosszügig sind Unternehmen gegenüber älteren Arbeitnehmern?
Vor wenigen Jahren boten vor allem Grossunternehmen bei Entlassungen älterer Mitarbeiter noch grosszügige Sozialpläne. Eine Frühpensionierung ohne Kürzung der Rente empfanden viele Arbeitgeber und Arbeitnehmer sozialer als die Kündigung eines jüngeren Kollegen mit Familienverpflichtungen. Solche Lösungen sind heute kaum mehr bezahlbar. Wie bei der IV hat sich stattdessen bei der Entlassung von älteren Angestellten das Prinzip «Eingliederung vor Verrentung» durchgesetzt. Etwa, indem die Mitarbeiter mehrere Monate auf der Lohnliste bleiben, sich in dieser Zeit jedoch darum bemühen, eine neue Stelle zu finden. Dies geschieht meist innerhalb eines Outplacements. Meiner Wahrnehmung nach versucht man bei KMU noch eher, für ältere Mitarbeiter eine Übergangslösung bis zur Pensionierung zu finden.
Was sind für Sie schlagende Argumente, um einen älteren Mitarbeiter einzustellen?
Als älterer Arbeitssuchender würde ich neben meiner ausgewiesenen Arbeitserfahrung und Expertise hervorheben, dass ich in fünf Jahren immer noch da sein werde, während das bei einem Jungen nicht unbedingt der Fall ist. Das lässt sich auch statistisch belegen. Deshalb lohnt es sich für Arbeitgeber, in die Einarbeitung älterer Mitarbeiter zu investieren. Letztere bringen zudem mehr Nähe und Verständnis für den wachsenden Seniorenmarkt. Und ihre Erfahrung ist bei komplexen Aufgaben ein besonderer Vorteil. Allerdings können die Unterschiede innerhalb einer Altersklasse sehr gross sein, psychisch wie physisch. Es gibt sehr fitte 60-Jährige und unfitte 20-Jährige. Beim 16 Kilometer langen Grand Prix von Bern wurde ich beispielsweise kurz vor dem Ziel von einem 70-Jährigen überholt!
Wo besteht für Sie seitens der Unternehmen der grösste Handlungsbedarf?
Auf oberster Führungsebene wurde erkannt, dass es im Unternehmen ältere Mitarbeiter braucht. So mag der CEO keine Vorbehalte gegenüber Älteren haben, die Einstellungsentscheide werden aber oft tiefer in der Hierarchie gefällt. Eine Sensibilisierung der ganzen Organisation ist somit nötig. Man müsste unsere Vorstellungen vom Alter hinterfragen. Wenn in einem Stelleninserat eine Altersangabe «bis 35» gemacht wird, handelt es sich um einen Einsteigerjob. Dafür eignet sich jedoch ein 45-jähriger Quereinsteiger ebenso gut. Schreibt man die Stelle aber als Junior-Funktion aus, fixiert man sich nicht mehr aufs Alter. Dann ist auch der Lohn kein Thema, weil alle wissen, dass dieser entsprechend niedriger ausfällt. Ein solches Vorgehen ist viel zielführender als eine Alterslimite. Auch bei der Talentförderung sollte man von altersspezifischen Gruppierungen wegkommen. Denn sobald eine bestimmte Mitarbeitergruppe bevorzugt wird, fühlen sich die anderen diskriminiert. Gestaltet man eine Massnahme hingegen altersunabhängig, erkennen engagierte Arbeitnehmer, dass es für alle einen Platz im Unternehmen gibt. Bei all diesen Themen sehe ich es vorrangig als Aufgabe des HR an, Vorurteile abzubauen und die Führungskräfte entsprechend zu unterstützen.