Henner Knabenreich
Was sagt uns ein Anschreiben über die Eignung des Bewerbers? Insbesondere, weil ein Anschreiben eine Reaktion auf Stellenanzeigen ist, deren Qualität und Aussagekraft oft zu wünschen übrig lassen. Interessanterweise beschweren sich Personaler über austauschbare Anschreiben ohne Aussagekraft und darüber, dass sie keine Bewerber finden – dabei ist das Problem wegen austauschbarer Stelleninserate meist selbst verursacht. Aber dessen ungeachtet: Warum sollten ein Software-Entwickler oder eine Erzieherin ein Anschreiben vorlegen? Lassen sich daraus Schlüsse über die fachliche oder gar persönliche Eignung ziehen? Sollte ein Software-Entwickler nicht einfach nur richtig gut coden und eine Erzieherin bestens mit Kindern umgehen können? Über die fachliche Qualifikation gibt doch schon der Lebenslauf oder das Profil auf Linkedin oder Xing Auskunft.
Ohnehin legen nur wenige Unternehmen verbindliche Anforderungen für eine Stelle fest. Vielmehr gehen diese auf Wunschlisten zurück, bei denen weder auf die Konsistenz zwischen Anforderungen noch zwischen Aufgaben und Anforderungen geachtet wird. Hinzu kommt, dass wir über die Wirksamkeit der Selbstselektion von Bewerbern aufgrund von Aufgabenbeschreibungen und Anforderungsprofilen nichts wissen. Während es Studien zur Gestaltung von Stellenanzeigen gibt, liegen diese über «eine bestmögliche und valide Basisrate der Bewerber durch eine realistische Selbsteinschätzung» nicht vor. Dennoch fordern Personaler ein Anschreiben, aus dem hervorgeht, warum man davon überzeugt ist, besonders gut auf die Stelle zu passen. Oft bedeutet ein fehlendes Anschreiben sogar das Aus für den Bewerber. Dabei ist die diagnostische Aussagekraft eines Anschreibens zweifelhaft, zumal dieses doch oft im Sinne einer vorteilhaften Selbstdarstellung manipuliert ist. Die Interpretation eines Anschreibens steht somit in etwa auf der Stufe des Kaffeesatzlesens.
Die Wirksamkeit der Selbstselektion ist das eine, das andere ist die Selbstcharakterisierung. Wenn sich ein Bewerber im Anschreiben als «teamfähig» bezeichnet, ist weder bekannt, welchen Massstab er oder der Personaler bei «Teamfähigkeit» anlegen, noch wie relevant diese Anforderung für die ausgeschriebene Stelle ist. Allerdings wissen die meisten Inserateverfasser dies selbst nicht. Hinzu kommt die Frage, ob man «Teamfähigkeit», «Flexibilität» oder «Begeisterungsfähigkeit» anhand eines Anschreibens beurteilen kann und inwieweit sich die Vorstellungen des Bewerbers bezüglich der einzelnen Begriffe mit dem Anforderungsprofil decken. Wenn Stelleninserate so wenig aussagekräftig sind, können wir dann aussagekräftige Bewerbungen erwarten? Wäre es nicht konsequent, auf die Anschreiben zu verzichten und die gewonnenen Ressourcen sinnvoll zu investieren? Einige Unternehmen haben erkannt, dass das Anschreiben eine zusätzliche Hürde für den händeringend gesuchten Nachwuchs darstellt. Mit der Konsequenz, dass sie das Anschreiben abgeschafft haben.
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